Der eigene Weg zur Freiheit

IX. DIE IDEE DER FREIHEIT (Auszug)

Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben.

Der Standpunkt der freien Sittlichkeit behauptet also nicht, dass der freie Geist die einzige Gestalt ist, in der ein Mensch existieren kann. Sie sieht in der freien Geistigkeit nur das letzte Entwicklungsstadium des Menschen. Damit ist nicht geleugnet, dass das Handeln nach Normen als Entwicklungsstufe seine Berechtigung habe. Es kann nur nicht als absoluter Sittlichkeitsstandpunkt anerkannt werden. Der freie Geist aber überwindet die Normen in dem Sinne, dass er nicht nur Gebote als Motive empfindet, sondern sein Handeln nach seinen Impulsen (Intuitionen) einrichtet.

Wenn Kant von der Pflicht sagt: «Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst» der du «ein Gesetz aufstellst…, vor dem alle Neigungen Verstummen, wenn sie gleich in Geheim ihm entgegenwirken» so erwidert der Mensch aus dem Bewusstsein des freien Geistes: «Freiheit! du freundlicher, menschlicher Name, der du alles sittlich Beliebte, was mein Menschentum am meisten würdigt, in dir fassest, und mich zu niemandes Diener machst, der du nicht bloß ein Gesetz aufstellst, sondern abwartest, was meine sittliche Liebe selbst als Gesetz erkennen wird, weil sie jedem nur aufgezwungenen Gesetze gegenüber sich unfrei fühlt.»

Das ist der Gegensatz von bloß gesetzmäßiger und freier Sittlichkeit. Der Philister, der in einem äußerlich Festgestellten die verkörperte Sittlichkeit sieht, wird in dem freien Geist vielleicht sogar einen gefährlichen Menschen sehen. Er tut es aber nur, weil sein Blick eingeengt ist in eine bestimmte Zeitepoche. Wenn er über dieselbe hinausblicken könnte, so müsste er alsbald finden, dass der freie Geist ebenso wenig nötig hat, über die Gesetze seines Staates hinauszugehen, wie der Philister selbst, nie aber sich mit ihnen in einen wirklichen Widerspruch zu setzen. Denn die Staatsgesetze sind sämtlich aus Intuitionen freier Geister entsprungen, ebenso wie alle anderen objektiven Sittlich-keitsgesetze.

Kein Gesetz wird durch Familienautorität ausgeübt, das nicht einmal von einem Ahnherrn als solches intuitiv erfasst und festgesetzt worden wäre; auch die konventionellen Gesetze der Sittlichkeit werden von bestimmten Menschen zu-erst aufgestellt; und die Staatsgesetze entstehen stets im Kopfe eines Staatsmannes. Diese Geister haben die Gesetze über die anderen Menschen gesetzt, und unfrei wird nur der, welcher diesen Ursprung vergisst, und sie entweder zu außermenschlichen Geboten, zu objektiven vom Menschlichen unabhängigen sittlichen Pflichtbegriffen oder zur befehlenden Stimme seines eigenen falsch mystisch zwingend gedachten Innern macht.

Wer den Ursprung aber nicht übersieht, sondern ihn in dem Menschen sucht, der wird damit rechnen als mit einem Glied derselben Ideenwelt, aus der auch er seine sittlichen Intuitionen holt. Glaubt er bessere zu haben, so sucht er sie an die Stelle der bestehenden zu bringen; findet er diese berechtigt, dann handelt er ihnen gemäß, als wenn sie seine eigenen wären. Es darf nicht die Formel geprägt werden, der Mensch sei dazu da, um eine von ihm abgesonderte sittliche Weltordnung zu verwirklichen.

Wer dies behauptete, stünde in Bezug auf Menschheitswissenschaft noch auf demselben Standpunkt, auf dem jene Naturwissenschaft stand, die da glaubte: der Stier habe Hörner, damit er stoßen könne. Die Naturforscher haben glücklich einen solchen Zweckbegriff zu den Toten geworfen. Die Ethik kann sich schwerer davon frei machen. Aber so wie die Hörner nicht wegen des Stoßens da sind, sondern das Stoßen durch die Hörner, so ist der Mensch nicht wegen der Sittlichkeit da, sondern die Sittlichkeit durch den Menschen.

Der freie Mensch handelt sittlich, weil er eine sittliche Idee hat; aber er handelt nicht, damit Sittlichkeit entstehe. Die menschlichen Individuen mit ihren zu ihrem Wesen gehörigen sittlichen Ideen sind die Voraussetzung der sittlichen Weltordnung. Das menschliche Individuum ist Quell aller Sittlichkeit und Mittelpunkt des Erdenlebens. Der Staat, die Gesellschaft sind nur da, weil sie sich als notwendige Folge des Individuallebens ergeben.

Dass dann der Staat und die Gesellschaft wieder zurückwirken auf das Individualleben, ist ebenso begreiflich, wie der Umstand, dass das Stoßen, das durch die Hörner da ist, wieder zurückwirkt auf die weitere Entwicklung der Hörner des Stieres, die bei längerem Nichtgebrauch verkümmern würden. Ebenso müsste das Individuum verkümmern, wenn es außerhalb der menschlichen Gemeinschaft ein abgesondertes Dasein führte. Darum bildet sich ja gerade die gesellschaftliche Ordnung, um im günstigen Sinne wieder zurück auf das Individuum zu wirken.

Und nochmal:
Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben.


X. FREIHEITSPHILOSOPHIE UND MONISMUS

Der naive Mensch, der nur als wirklich gelten lässt, was er mit Augen sehen und mit Händen greifen kann, fordert auch für sein sittliches Leben Beweggründe, die mit den Sinnen wahrnehmbar sind. Er fordert ein Wesen, das ihm diese Beweggründe auf eine seinen Sinnen verständliche Weise mitteilt. Er wird von einem Menschen, den er für weiser und mächtiger hält als sich selbst, oder den er aus einem andern Grunde als eine über ihm stehende Macht anerkennt, diese Beweggründe als Gebote sich diktieren lassen. Es ergeben sich auf diese Weise als sittliche Prinzipien die schon früher genannten der Familien-, staatlichen, gesellschaftlichen, kirchlichen und göttlichen Autorität. Der befangenste Mensch glaubt noch einem einzelnen andern Menschen; der etwas fortgeschrittenere lässt sich sein sittliches Verhalten von einer Mehrheit (Staat, Gesellschaft) diktieren.

Immer sind es wahrnehmbare Mächte, auf die er baut. Wem endlich die Überzeugung aufdämmert, dass dies doch im Grunde ebenso schwache Menschen sind wie er, der sucht bei einer höheren Macht Auskunft, bei einem göttlichen Wesen, das er sich aber mit sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ausstattet. Er lässt sich von diesem Wesen den begrifflichen Inhalt seines sittlichen Lebens wieder auf wahrnehmbare Weise vermitteln, sei es, dass der Gott im brennenden Dornbüsche erscheint, sei es, dass er in leibhaftig-menschlicher Gestalt unter den Menschen wandelt und ihren Ohren vernehmbar sagt, was sie tun und nicht tun sollen.

Die höchste Entwicklungsstufe des naiven Realismus auf dem Gebiete der Sittlichkeit ist die, wo das Sittengebot (sittliche Idee) von jeder fremden Wesenheit abgetrennt und hypothetisch als absolute Kraft im eigenen Innern gedacht wird. Was der Mensch zuerst als äußere Stimme Gottes vernahm, das vernimmt er jetzt als selbständige Macht in seinem Innern und spricht von dieser innern Stimme so, dass er sie dem Gewissen gleichsetzt.
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Wer unfähig ist, die sittlichen Ideen durch Intuition hervorzubringen, der muss sie von andern empfangen. Insoweit der Mensch seine sittlichen Prinzipien von außen empfängt, ist er tatsächlich unfrei.
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Der Mensch kann nach monistischer Auffassung unfrei handeln, wenn er einem wahrnehmbaren äußeren Zwänge folgt; er kann frei handeln, wenn er nur sich selbst gehorcht.
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Nach monistischer Auffassung handelt der Mensch teils, unfrei, teils frei. Er findet sich als unfrei in der Welt der Wahrnehmungen vor und verwirklicht in sich den freien Geist.
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Die sittlichen Gebote, die der bloß schlussfolgernde Metaphysiker als Ausflüsse einer höheren Macht ansehen muss, sind dem Bekenner des Monismus Gedanken der Menschen; die sittliche Weltordnung ist ihm weder der Abklatsch einer rein mechanischen Naturordnung, noch einer außermenschlichen Weltordnung, sondern durchaus freies Menschenwerk. Der Mensch hat nicht den Willen eines außer ihm liegenden Wesens in der Welt, sondern seinen eigenen durchzusetzen; er verwirklicht nicht die Ratschlüsse und Intentionen eines andern Wesens, sondern seine eigenen. Hinter den handelnden Menschen sieht der Monismus nicht die Zwecke einer ihm fremden Weltenlen-kung, die die Menschen nach ihrem Willen bestimmt, sondern die Menschen verfolgen, insofern sie intuitive Ideen verwirklichen, nur ihre eigenen, menschlichen Zwecke.

Und zwar verfolgt jedes Individuum seine besonderen Zwecke. Denn die Ideenwelt lebt sich nicht in einer Gemeinschaft von Menschen, sondern nur in menschlichen Individuen aus. Was als gemeinsames Ziel einer menschlichen Gesamtheit sich ergibt, das ist nur die Folge der einzelnen Willenstaten der Individuen, und zwar meist einiger weniger Auserlesener, denen die anderen, als ihren Autoritäten, folgen. Jeder von uns ist berufen zum freien Geiste, wie jeder Rosenkeim berufen ist, Rose zu werden.

Der Monismus ist also im Gebiete des wahrhaft sittlichen Handelns Freiheitsphilosophie.
[…]
Weil er den Menschen nicht als abgeschlossenes Produkt, das in jedem Augenblicke seines Lebens sein volles Wesen entfaltet, betrachtet, so scheint ihm der Streit, ob der Mensch als solcher frei ist oder nicht, nichtig. Er sieht in dem Menschen ein sich entwickelndes Wesen und fragt, ob auf dieser Entwicklungsbahn auch die Stufe des freien Geistes erreicht werden kann.

Der Monismus weiß, dass die Natur den Menschen nicht als freien Geist fix und fertig aus ihren Armen entlässt, sondern dass sie ihn bis zu einer gewissen Stufe führt, von der aus er noch immer als unfreies Wesen sich weiter entwickelt, bis er an den Punkt kommt, wo er sich selbst findet.
[…]
Die menschliche Sittlichkeit ist wie die menschliche Erkenntnis bedingt durch die menschliche Natur. Und so wie andere Wesen unter Erkenntnis etwas ganz anderes verstehen werden als wir, so werden andere Wesen auch eine andere Sittlichkeit haben. Sittlichkeit ist dem Anhänger des Monismus eine spezifisch menschliche Eigenschaft, und Freiheit die menschliche Form, sittlich zu sein.
[…]
Für eine Einsicht, die durchschaut, wie Ideen intuitiv erlebt werden als ein auf sich selbst beruhendes Wesenhaftes, wird klar, dass der Mensch im Umkreis der Ideenwelt beim Erkennen sich in ein für alle Menschen Einheitliches hineinlebt, dass er aber, wenn er aus dieser Ideenwelt die Intuitionen für seine Willensakte entlehnt, ein Glied dieser Ideenwelt durch dieselbe Tätigkeit individualisiert, die er im geistig-ideellen Vorgang beim Erkennen als eine allgemein-menschliche entfaltet.

Darin liegt ein Kennzeichen der menschlichen Wesenheit, dass das intuitiv zu Erfassende im Menschen wie im lebendigen Pendelschlag sich hin- und herbewegt zwischen der allgemein geltenden Erkenntnis und dem individuellen Erleben dieses Allgemeinen. Wer den einen Pendelausschlag in seiner Wirklichkeit nicht schauen kann, für den bleibt das Denken nur eine subjektive menschliche Betätigung; wer den andern nicht erfassen kann, für den scheint mit der Betätigung des Menschen im Denken alles individuelle Leben verloren.

Für einen Denker der ersteren Art ist das Erkennen, für den andern das sittliche Leben eine undurchschaubare Tatsache. Beide werden für die Erklärung des einen oder des andern allerlei Vorstellungen beibringen, die alle unzutreffend sind, weil von beiden eigentlich die Erlernbarkeit des Denkens entweder gar nicht erfasst, oder als bloß abstrahierende Betätigung verkannt wird.

TEXTQUELLE

RUDOLF STEINER - Die Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen Weltanschauung, Seelische Beobachtungsresultate nach Naturwissenschafticher Methode, 1894

anthroposophie - GA004 - PDF

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