Der Übergang zu einer neuen Kultur braucht eine Bereitschaft des einzelnen Menschen, sich zu verändern, damit mensch fähig wird, die neue Kultur aus sich selbst heraus zu gestalten.
1. Emotionelle Reinigung - den Charakterpanzer auflösen und sich selbst werden
"Was heißt emotionelle Reinigung? Es heißt, daß Liebe und Haß aus ihrer wechselseitigen Umschlingung gelöst werden... daß man keine Angst mehr hat, wo man kämpfen sollte und keine Hemmung mehr, wo Hingabe erwünscht wäre... daß man sich nicht zu einem Lächeln zwingt, wo man weinen oder schreien möchte... daß man wieder unterscheiden lernt zwischen Liebe und Anlehnungsbedürfnis, zwischen einer Zustimmung des Herzens und einer Zustimmung aus Angst vor Ablehnung... daß man die Freundin nicht mehr mit der eigenen Mutter verwechselt und den Freund nicht mehr mit dem Papa, die eigene Wehleidigkeit nicht mehr mit Nächstenliebe, die Wut der persönlichen Verletztheit nicht mit dem Zorn auf die Zerstörer des Lebens und die eigene Feigheit nicht mehr mit Rücksichtnahme oder Toleranz.
Emotionelle Reinigung heißt, daß die Emotionen und Energien wieder strömen können, weil sie frei sind von Verlogenheit, daß die Minderwertigkeitsgefühle und die Schuldgefühle verschwinden, weil die Minderwertigkeit und die Schuld verschwunden ist... es heißt, daß die falsche Scham verschwindet, mit der wir unsere lebendigsten und besten Regungen verleugnet haben, und daß die richtige Scham einkehrt, nämlich darüber, daß wir immer wieder die Wahrheit des Lebendigen in uns und anderen unterdrücken aus keinem anderen Grund als dem der Angst vor dem Blick und Urteil anderer.
Emotionelle Reinigung ist die fundamentale Überwindung jenes ganzen psychologischen und kulturellen Systems, welches Wilhelm Reich als »Charakterpanzer« bezeichnet hat. Charakterpanzer ist ein System zur Kleinhaltung biologischer Energien und gleichzeitig eine psychologisch-ideologische Schutzeinrichtung gegen alle Einbrüche des hinausgedrängten Lebens und gegen alle Klopfzeichen einer verschütteten Wahrheit, einer verschütteten Sehnsucht und einer verschütteten Liebe.
Die Kulturepoche des Charakterpanzers hat die Trauben für sauer erklärt, wenn sie zu hoch hingen, und das Süße gehaßt, wenn es unerreichbar war. Die Wollust, nach der es sie permanent verlangte, hat sie geächtet und verbrannt, aus der Impotenz hat sie die Tugend des Verzichts gemacht und aus der Feigheit die Moral. Diese Falschmünzerei ist zur Struktur geworden, zum festen Bestandteil all dessen, was als »Bildung«, »Humanität« und »Menschenwürde« überliefert ist.
Die Menschen belehrten andere über Freiheit und sahen nicht die Falle, in der sie selbst saßen... sie entwarfen Theorien als Ausrede für die eigene Angst... sie unternahmen Angriffe auf Staat und Gesellschaft, aber sie haßten jeden Angriff auf ihren eigenen Charakterpanzer.
Zur Regulierung ihres sozialen Lebens, brauchten die Menschen der alten Kultur äußere Ideologien und Autoritäten, weil sie sich als gepanzerte Wesen nicht darauf verlassen konnten, daß die menschliche Rückkoppelung, die sie im Kontakt mit ihresgleichen erhielten, ehrlich und vernünftig war.
Da sie außerdem gestaut und voll latenter Bosheit waren, mußten sie sich durch ein System von Gesetzen und Strafen vor asozialen Exzessen schützen. Ein zentrales Regulierungsprinzip der bisherigen Gesellschaft war deshalb die Angst.
Wenn es heute einen zentralen Paradigmenwechsel der Gesamtkultur gibt, dann ist er verankert in dem Übergang einer von Strafe und Angst regulierten sozialen Ordnung zu einer im freien und direkten menschlichen Kontakt wurzelnden sozialen Selbstorganisation der Menschen."
Dieter Duhm, 2011, Aufbruch zur neuen Kultur: Von der Verweigerung zur Neugestaltung - Umrisse einer ökologischen und menschlichen Alternative
2. Soziales Training - vom einem freien Ich zum freien Du
"Wollen wir wirklich die Gegensätze zwischen den Völkern überbrücken? Wollen wir wirklich dem anderen begegnen, auch wenn er aus einem anderen Land kommt, sei er "Akademiker" oder ein einfacher Mensch, der nicht mehr als einen Hauptschulabschluss in der Tasche hat? Wollen wir dem anderen als Mensch, in seinem Ich begegnen? Jede echte Begegnung gibt die Antwort. Sobald ich aus meinem Geistes-Ich heraus dem anderen Geistes-Ich begegne, weiß ich, dasss ich einem Gewebe von Beziehungen lebe, in dem mehr anwesend ich als nur die beiden Iche. Denn es lebt darin das Göttliche, das im Zwischenmenschlichen und im Sozialen wirkt. [...]
Am Anfang dieses Jahrhunderts hat Rudolf Steiner dies alles vorbereitet durch sein Buch "Die Philosophie der Freiheit". Dort bezeichnet er das Leben aus der "moralischen Phantasie" als eine der Aufgaben unseres Jahrhunderts. In der "moralischen Phantasie" ist der Mensch kreativ, kreativ nicht im biologischen, sondern im geistigen Sinne. Diese Kreativität kann, vom Ich ausgehend, auf zweierlei Weise zum Ausdruck kommen: zum einen in der "moralischen Intuition", der Fähigkeit, aus eigener freier Entscheidung von den Möglichkeiten Gebrauch zu machen, die uns unserer Umwelt bietet. Zum anderen in der "moralischen Technik", der Kunst, innerhalb der sozialen Verhältnisse dasjenige zu verwirklichen, was man im Lichte seines eigenen Ich als das richtige ansieht, ohne dabei die Freiheit des anderen anzutasten.
Man muss sich also bei jeglicher Zusammenarbeit mit anderen prüfen, ob man durch sein Handeln den anderen nicht in seiner Freiheit beeinträchtigt. Das beinhaltet, dass man von vornherein diesen anderen eben auch so weitgehend wie möglicht in die Sache einbezieht. Wir nennen das heutzutage "soziale Fähigkeit" Dadurch wird es möglicht, aus Respekt vor dem anderen diesen fortwährend im Bewusstsein zu tragen. Das ist besonders schwer, und muss ständig aufs neue geübt werden. Man kann nie behaupten, dass das Ziel erreicht ist.
Dieser Übungsweg ist die große Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte. Es ist der Übungsweg der Generation dieses letzten Jahrhundertdrittels: Übung der sozialen Fähigkeiten, damit über die Beziehungen der Menschen zueinander ein Stück der geistigen Realtität dieses Jahrhunderts auf die Erde heruntergeholt werden kann."Bernard Lievegoed, 1994, Eine Kultur des Herzens3. Gemeinsam Arbeiten ... folgt in Kürze ...