«Du, meines Erdenraumes Geist»

von Marc Desaules
Beim Blick in die Welt erleben wir gegenwärtig, dass an jedem Tag unser Rechtsempfinden neu strapaziert wird. Dinge finden statt, die vorher nie denkbar gewesen wären. Und sie treffen unser Dasein als Menschen und als Menschheit zutiefst. Die über lange Zeit aufgebaute Rechtsordnung zwischen den Menschen, zwischen den Institutionen und zwischen den Ländern - sie trägt nicht mehr.
Was kann in dieser Situation der Einzelne noch tun, um neue Ordnung zu ermöglichen? Zuerst, den Horizont erwei-tern. Denn, so Rudolf Steiner, es sind Wesen im Geistes, im Rechts- und im Wirtschaftsleben wirksam: Im Geistesleben stossen wir auf das Wirkensgebiet der Engel, im Rechtsleben auf das der Erzengel und im Wirtschaftsleben auf dasjenige der Archai. Im Volksseelenzyklus («Die Mission einzelner Volksseelen», GA 121) zeigt er auf, wie diese Wesen uns in allem, was wir im Sozialen tun, begleiten, und legt damit offen, was im Hintergrund der weltpolitischen Ereignisse geschieht, je nach dem freilassend oder bestimmend.
Das ist nicht nur einfach. Denn in jeder menschlichen Gemeinschaft tritt uns nicht nur ein Wesen, sondern gleich deren vier entgegen: der Erzengel, der als Volksgeist unser Zusammensein auf dem Fleck Erde, wo wir leben, begleitet und der sich in der erlebten Zugehörigkeit und in den Regeln, die wir uns gegenseitig zusprechen, zeigt. Er kann als unseres Erdenraumes Geist angesprochen werden. Ihm zur Seite steht, auch als Erzengel, der Sprachgeist, mächtiger als er wirkend, weil er ein zweimal zurückgebliebener Geist ist.
Über dem Volksgeist west der Zeitgeist, ein Arche, der die Qualität einer Epoche trägt - das ist zurzeit die weltweite kosmopolitische Prägung. Ihm zur Seite ist mit dem Denkgeist zu rechnen, auch als Arche, aber auch stärker als der Zeitgeist wirkend, weil einmal zurückgeblieben. Unfrei lassend bestimmt dieser eine Denkweise nach den materialistischen Gegebenheiten und nach allerlei Gruppenmustern, wie die Nationalismen, und wirkt dezidiert gegen den Zeitgeist.
So ist der geistige Hintergrund unser menschliches Beisammensein gebildet. Nun gilt es, die Wirkungen zu durch-schauen. Schon bei der Unterscheidung zwischen Sprach-und Volksgeist beginnt das Problem, weil diese in ständiger Konkurrenz sind. Beide sind Erzengel, aber wie erkennen wir den Volksgeist? Anders als die Menschen unserer Nachbarlander haben wir Schweizer in dieser Hinsicht einen Vorteil. Als Romand vermag ich zu unterscheiden, was mich mit Frankreich durch die Sprache, aber auch deutlich, was mich mit der Schweiz verbindet - nicht einfach, wenn Land und Sprache übereinstimmen. Ähnlich und gleichermassen wichtig ist es, zu erkennen, was dem Zeitgeist und was dem Denkgeist entspricht, was zur Qualität unserer Zeit gehört, Menschen fördernd, und was dagegen sich ausbreitet, Menschen bedrängend.
Wenn uns nun beim Blick in die heutige Welt die Orientierung zu verlassen droht, so sollten wir den eigenen Horizont so erweitern, dass wir unseren Volkgeist - dies in allen Ländern der Welt - in die Gleichung einbeziehen. Denn aden Friedenssphären seines Wirkens vermag er neue Wege zu schaffen, wo wir die Orientierung verlieren. Damit er dies tun kann, braucht er jedoch unsere Hilfe, die Hilfe eines jeden einzelnen Menschen!
Das können wir aus dem Spruch, den Rudolf Steiner in den ersten Tagen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, am 16. August 1914, gegeben hat: Du, meines Erdenraumes Geist - so wird unser Erzengel, unser Volksgeist angesprochen.
Enthülle deines Alters Licht - anders gesagt, zeige mir dein wahres Wesen, damit ich dich nicht mit einem anderen Geist, der in der Gemeinschaft wirkt, verwechsle.
Der Christ-begabten Seele. - Christ-begabt? Was ist gemeint?
Sicher nichts, was mit der Religion zu tun hat. Es geht um eine Haltung, die in jedem Menschen heute wachsen kann: bereit sein zu verantworten, also die vollen Konsequenzen des eigenen Tuns tragen zu wollen. Es bedeutet, eine Beziehung zu schaffen mit dem Auferstehungsleib.
Der Spruch erscheint also vorerst als eine Bitte, an die geistige Welt gerichtet, eine Bitte, die sich an den Geist wendet, der auf Erden mein Zusammenleben mit den anderen Menschenseelen begleitet. Durch diese Bitte wird aber die Seele aufgefordert, die Geister, von denen sie in Gemeinschaften auf Erden begleitet wird, aufzusuchen und zu unterscheiden.
Eine schwierige Aufgabe, die sich aber wirklich lohnt, weil:
Dass strebend sie finden kann - die Christ-begabte Seele ist, im Verantwortenwollen der Konsequenzen ihres Wirkens, auch eine strebende.
Im Chor der Friedenssphären - wo befindet sich der Volks-geist? Der Volksgeist ist in den Friedens-sphären mit all den anderen Volksgeistern zu finden. Kriege entstehen nicht aus der Wirkung der Volksgeister, sondern immer ausserhalb.
Dich tönend von Lob und Macht - indem die Seele ernsthaft strebt, so findet sie auch ihr Volksgeist. Er ist da und tönt. Woher?
Des Christ-ergebenen Menschensinns.-Aus Lob und Macht, die aus dem erwachten Menschensinn strahlen. Denn seit dem Mysterium von Golgatha, ist Christus nicht mehr in den Himmel, sondern auf der Erde mit den Men-schen. Dadurch sind die Geister von uns Menschen abhängig geworden, um Christus zu erleben. Wird dieser Vorgang, der bei uns beginnt, möglich, so können Wunder passieren! Wir können unseren Volksgeist befähigen! Und befähigt, wird er auch den Weg im Chor der Friedensphären finden - und wir die Orientierung, als Echo aus der anderen Seite der Schwelle.
Wer sonst, wenn nicht wir, können hier in der heutigen Zeit tätig werden!