Rousseau gab zu, daß der ideale «Naturzustand ... vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich nie existieren wird» Er stellte diesen Zustand nicht als eine historische Tatsache dar, sondern als einen Vergleichsmaßstab. Das ist es, was er mit dem verblüffenden Vorschlag meinte:
«Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten, denn sie berühren nicht die Frage. Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen.»
Wir können uns jedoch eine Vorstellung vom Leben der Menschen vor der Entstehung sozialer Organisationen machen, indem wir den Zustand und das Verhalten neu entstandener Staatskörper beobachten, denn «Staaten von heute verbleiben in einem Naturzustand» - jeder für sich souverän und in Wirklichkeit keine Gesetze kennend als diejenigen der List und der Gewalt; wir können annehmen, daß der präsoziale Mensch in einem ähnlichen Zustand individueller Souveränität, Unsicherheit, des kollektiven Chaos und wechselseitiger Gewalt lebte.
Rousseaus Ideal war nicht eine solche imaginäre präsoziale Existenz (denn die Gesellschaft ist vielleicht so alt wie der Mensch), sondern ein späteres Stadium der Entwicklung, in dem die Menschen in patriarchalischen Familien und Stammesgruppen lebten und das Privateigentum noch nicht eingeführt hatten.
«Die älteste und einzig natürliche Form aller Gesellschaften ist die Familie.» Dies war die Zeit höchsten Glückes für die Menschheit; sie hatte Fehler, Schmerzen und Strafen, doch sie hatte keine Gesetze außer der elterlichen Autorität und der Familiendisziplin;
«Es war der beste Zustand für den Menschen. Er konnte ihn nur infolge irgendeines verhängnisvollen Zustandes verlassen.»
Dieser Zufall war die Einführung des Privateigentums, aus dem die ökonomische, politische und soziale Ungleichheit erwuchs und die meisten der übel des modernen Lebens.
Aus dieser zugelassenen rechtswidrigen Besitzergreifung entstand der vielfältige Fluch der Kultur: Klasseneinteilung, Sklaverei, Leibeigenschaft, Neid, Raub, Krieg, legale Ungerechtigkeit, politische Korruption, kaufmännische Übervorteilung, Erfindungen, Wissenschaft, Literatur, Kunst, «Fortschritt» - mit einem Wort, Entartung.
Um das Privateigentum zu schützen, wurde die Gewalt organisiert und entstand der Staat; um das Regieren zu erleichtern, wurde das Recht entwickelt, um den Schwachen daran zu gewöhnen, sich dem Starken mit einem Minimum an Gewalt und Aufwand zu unterwerfen.
So kam es, daß «man eine Handvoll Mächtiger und Reicher gerade deshalb auf dem Gipfel der Größe und des Glückes sieht, während die Masse in Dunkelheit und Elend dahinkriecht».
Zu diesen Grundungleichheiten kommen viele abgeleitete Ungleichheiten: «Schändliche Methoden werden angewandt, um Geburten zu verhindern», Abtreibung, Kindermord, Kastration, Perversionen, «Aussetzung oder Tötung von zahlreichen Kindern, die Opfer der Armut ihrer Eltern werden».
Alle diese Übel wirken demoralisierend, sie sind den Tieren unbekannt, sie machen die «Kultur» zu einem Krebsgeschwür am Körper der Menschheit. Im Vergleich zu dieser vielgestaltigen Korruption und Perversität ist das Leben der Wilden gesund, vernünftig und human.
Sollen wir deshalb zur Barbarei zurückkehren? Müssen die Gesellschaften vollkommen abgeschafft werden? Müssen Mein und Dein abgeschafft werden und müssen wir in die Wälder zurückkehren, um unter den Bären zu leben? Das ist uns nicht mehr möglich; das Gift der Kultur ist in unserem Blut, und wir werden es nicht ausrotten durch die Flucht in die Wälder.
Dem Privateigentum, der Regierung und dem Gesetz ein Ende zu machen würde bedeuten, die Menschen in ein Chaos zu stürzen, das schlimmer wäre als die Kultur.
«Niemals gelangt man wieder zurück in die Zeiten der Unschuld und Gleichheit, wenn man sich einmal von ihnen entfernt hat.»
Revolution kann gerechtfertigt sein, denn Gewalt kann gerechterweise stürzen, was Gewalt errichtet und behauptet hat; doch jetzt ist Revolution nicht ratsam.
Das Beste, was wir tun können, ist, wieder das Evangelium studieren und versuchen, uns von unseren bösen Impulsen zu befreien, indem wir die Ethik des Christentums praktizieren.
Wir können eine natürliche Sympathie für unsere Mitmenschen zur Grundlage der Moral und der sozialen Ordnung machen. Wir können uns entschließen, ein weniger kompliziertes Leben zu führen, zufrieden mit dem Notwendigsten, den Luxus verachtend, den Wettlauf und das Fieber des «Fortschritts» meidend. Wir können, eine nach der anderen, die Künstlichkeiten, Scheinheiligkeiten und Verderbtheiten der Kultur abwerfen und uns zu Anstand, Natürlichkeit und Ehrlichkeit bekehren.
Wir können den Lärm und den Aufruhr unserer Städte, ihren Haß, ihre Ausschweifungen und ihre Verbrechen verlassen, um in ländlicher Einfachheit zufrieden in der Erfüllung unserer häuslichen Pflichten zu leben. Wir können den Dünkel und die Sackgassen der Philosophie aufgeben und zurückkehren zu einem religiösen Glauben, der uns im Angesicht des Leidens und des Todes aufrechterhalten wird.
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Will und Ariel Durant: Kulturgeschichte der Menschheit, Band 15, Europa und der Osten im Zeitalter der Aufklärung, Rousseau der Wanderer, S. 44,45, Südwest Verlag München, 1978