Welche Störung ist hier aktiv?

 Aktivisten vor den »Sonnenblumen« von Vincent Van Gogh: Im Kern so einleuchtend wie ehrenwert 

"Es ist ein milder Terrorismus, der sich da in Kreisen von »Just Stop Oil« oder »Letzte Generation« etabliert hat. Milde, weil bei den bisherigen Attacken auf Kunstwerke keine gravierenden Schäden entstanden sind. Terror, weil Vandalismus immer erschreckt – oder mindestens aufschreckt.

Das ist der Sinn der symbolischen Sache, und das Anliegen im Kern auch so einleuchtend wie ehrenwert. Deshalb blockieren Aktivistinnen die Magistralen der Metropolen für den Verkehr, und deshalb nehmen sie die Kunst in den Museen ins Visier. Offensichtlich gehören sie einer Generation an, die sich für ihr Engagement eher »soft targets« sucht. Also nicht den Mineralölkonzern. Sondern das Ölgemälde.

Aus »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« ist »Besudelt, was anderen Menschen viel bedeutet!« geworden. Ist das ein Fortschritt?"

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Mit solchen Aktionen gewinnt man keine Sympathien

"Erstens muss für die Klimakrise keine Aufmerksamkeit mehr erregt werden. Wer nicht weiß, was uns bei ungebremstem Weiterwirtschaften auf fossiler Basis blüht, der will es nicht wissen – und den kümmert erst recht nicht Unversehrtheit eines Gemäldes.

Zweitens wird die kulturelle Vergangenheit menschlichen Schaffens nicht deshalb zu einem legitimen Ziel für Tomatensuppe, weil die ökologischen Folgen menschlichen Schaffens die Zukunft gefährden. Nach dieser Logik könnte man, um endlich ein Handeln der »Verantwortlichen« zu erzwingen, ebenso gut mit der Hinrichtung eines niedlichen Kätzchens drohen.

Drittens gewinnt man mit solchen Attacken womöglich Aufmerksamkeit, aber keine Sympathien oder gar Alliierte. Im Gegenteil. Mag sein, dass darin eine existenzielle Dringlichkeit zum Ausdruck kommt. Die schadet aber, wie der Wutausbruch einer Pubertierenden, der guten Sache selbst."

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https://www.spiegel.de/kultur/van-gogh-gemaelde-mit-tomatensuppe-beworfen-dieser-milde-terror-geht-ins-leere-kommentar-a-c4b38cf6-c483-48cc-a94b-6c4c5ae01915

Natur & Menschen in der Schweiz – von Rilke

An Gertrud Ouckama Knoop

Soglio (Bergell, Graubünden), Schweiz,
am 12. September 1919


Meine sehr liebe gnädigste Frau,
der Impuls, Ihnen von auswärts ein paar Worte zu schicken, ist wohl von allem Anfang mit mir herausgereist. Es beschämt mich nur, daß ich ihm so spät nachgebe. Ich rechne: wirklich, gestern waren es drei Monate, daß ich die Grenze überschritten habe, drei Monate, das heißt, der ganze Sommer liegt zwischen damals und heute - wie, wo mag er Ihnen, Lilinka und Wera vergangen sein ? Ich hoffe, Sie waren nicht immerzu in München, - aber ich weiß auch nicht recht, wo gewesen zu sein ich Ihnen wünschen sollte. Meine Erinnerung hat immer Neumond auf München zu; sie scheint viel mehr in andere Vergangenheiten hinein, als in diese jüngste, die so vernutzt hinter mir zurückgeblieben ist, daß ich meine, mich von ihr abkehren zu dürfen. Und auf was zu? Ja, das ist eine unabsehliche Frage. 

Stellen Sie sich vor, das "Draußen"-Sein war erst beinah anstrengend. Man konnte es doch nicht mehr so recht, man verbrachte halbe Tage damit (oder wars nur ich?), vor den Parfümerien die Namen Houbigant, Roger und Gallet und Pinaud zu lesen; ja, einen kleinen Augenblick hieß die Freiheit so, - wer hätte das für möglich gehalten? Die Konditoreien machten mir lange nicht so viel Eindruck, ich habe noch bis heute keine Schokolade gekauft, aber Seifen taten mirs an, ich war richtig wehrlos gegen ein solches reinlich überfülltes Schaufenster der Züricher Bahnhofstraße. 

Über solche Umwege, mögen sie auch noch so lächerlich sein, gelangte ich langsam zu dem Übrigen: zu den französischen Buchhandlungen und Kunstsalons, zu dem Treiben der Straßen und Betriebe, ja, mit einiger Überwindung, sogar zu der Natur. Schade, daß sie mir in der Schweiz nur in Übertreibungen vorzukommen scheint; was für Ansprüche machen diese Seen und Berge, wie ist immer etwas zu viel an ihnen, die einfachen Augenblicke hat man ihnen abgewöhnt. Die Bewunderung unserer Groß- und Urgroßeltern scheint an diesen Gegenden mitgearbeitet zu haben; die kamen da aus ihren Ländern hergereist, wo es sozusagen "nichts" gab, und hier gab es dann "Alles", in Pracht-Ausgaben. 

 Lieber Himmel: eine Salon-Tisch-Natur, eine Natur mit Auf und Ab, voller Überfluß, voller Verdoppelung, voll unterstrichener Gegenstände. Ein Berg? bewahre, ein Dutzend auf jeder Seite, einer hinter dem anderen; ein See: gewiß, aber dann auch gleich ein feiner See, bester Qualität, mit Spiegelbildern reinsten Wassers, mit einer Galerie von Spiegelbildern, und der liebe Gott,als Kustos, eines nach dem anderen erklärend; wenn er nicht gerade als Regisseur beschäftigt ist, die Scheinwerfer des Abendrots nach den Bergen zu richten, von wo den ganzen Tag der Schnee in den Sommer hineinhängt, damit man doch so recht alle "Schönheiten" beisammen habe. Denn der Winter hat doch die seine, und so ists das Vollkommenste, ihn nicht zu entbehren, während man mitten in den gewärmten Genüssen des Gegenteils sich geborgen fühlt ... 

Ich kann mir nicht helfen, ich erreiche diese assortierte Natur am bequemsten mit meiner Ironie, ja und ich erinnere mich der schönen Zeiten, wo ich, hier durchreisend, die Vorhänge des Coupés zuzog, worauf die übrigen Reisenden in den Gängen meinen Anteil Aussicht gierig mitverzehrten, ich bin sicher, es ist nichts übrig geblieben. 

Nun sagen Sie: was ist dieser Mensch nun undankbar geworden nach allen Seiten, ausgelassen undankbar? Er ist es gegen München, das ihm doch immerhin in so unüberwindlichen Zeiten eine nicht unfreundliche Zuflucht gewesen ist, und nun ist ers gar nochh gegen seine neue beneidenswerte Freiheit, die er verhöhnt, statt sich bescheiden an ihr zu erholen. Nein, so arg steht es wirjlich nicht mit mir: ich glaube sogar, die Schweiz fängt an, mir begreiflich zu werden, in ihrer eigentümlichen Durchdringung ung angestammten Einheit. Das verdanke ich Bern, wo mir die gastlichsten Wochen bereitet gewesen sind, und von wo aus diese Länder, die die Natur aus Grenzen und Hindernissen gebildet hat, in einer merkwürdigen Klarheit und Durchsichtigkeit erkennbar werden. Ihre Geschichte ist voll Naturkraft, die Menschen, wo sie hier als Masse zusammentraten, hatten etwas von der Konsistenz und Härte des Gebirgs und ihr hervorstürzender Wille ist in den entscheidendsten Momenten eine Fortsetzung jener Unwiderstehlichkeit gewesen, mit der die Wildbäche in den Talschaften ankommen. 

Und zu welchem genauen und geformten Selbstbewußtsein hat sich in den ausdrucksvollen Städten diese erfahrene und erwiesene Kraft ausgebildet: wie steht Bern einstimmig da, jedes Haus über seinen gekretschten Steinlauben, die auch noch den Verkehr in ihren Schutz einbeziehen, so daß draußen nur die Märkte bleiben und die wunderbar bildlichen Brunnen, die sogar das Wasser bürgerlich machen! Gerne entschließt man sich dazu, den schweizer Menschen als einen Teil dieser Verbürgtheit sich klar zu machen: man versteht dann am ehesten seinen Umriß und seine Struktur, die in ihrer Anlage tatsächlich aus der gleichmäßigsten Masse geknetet und aus dem Ganzen geschnitten scheinen: so daß in jedem das Volk gegenwärtig ist (was man bei uns so entbehrt, wo mans beständig mit dem Stumpfen oder gar Amorphen zu tun hat, oder aber dem Einzelnen als einer Ausnahme gegenübersteht). Seltsam übrigens: die Psychoanalyse nimmt hier (wenigstens in Zürich) die eindringlichsten Formen an: fast alle diese ohnehin sauberen und eckigen jungen Leute werden analysiert -; nun denken Sie sich das aus: so ein sterilisierter Schweizer, in den alle Winkel ausgekehrt und gescheuert sind -, was für ein Innenleben kann in seinem Gemüt stattfinden, das wie ein Operarions-Zimmer keimfrei und schattenlos beleuchtet ist!...

Seit sechs Wochen bin ich hier; nur, wie langsam! um wirklich zur Besinnung zu kommen, müßten mir Aufenthalt und Jahreszeit unabsehlich zugesprochen sein! Und zum Schuß frag ich doch: München? Was verspricht es? Wie wird der Winter werden? (der doch wohl auch der meine wird werden müssen). Die herzlichsten Grüße für Lilinka und Wera, und herzliche und treu ergebene an Sie.

Rilke