Durch die Länder der untergehenden Sonne wanderte vor Zeiten ein
Mann, der viel von sich reden machte. Man erzählte sich Wunder über
Wunder von seinem Wirken, den Meister der Liebe nannte
man ihn. Es war und blieb eigen, daß man nie wußte, wo er gerade
weilte. Er tauchte geheimnisvoll auf und verschwand geheimnisvoll. Meist
begleitete ihn einer der eifrigeren Schüler.
Ein Edelmann, dem weniger an seinem Namen, als an seinem Werden und
Wachsen lag, wollte den Meister der Liebe kennen lernen. Viel Mühe und
viele Mittel hatte er schon ans Lernen gewandt. Nie
scheute er auch viele Mittel und Mühe, die Fährte des Meisters der
Liebe zu suchen. Er suchte fast drei Jahre, von Land zu Land, rastlos.
Eines Abends kam er in ein Dorf, wo er hörte, wenige
Stunden zuvor sei der Meister der Liebe dagewesen. Er habe zuletzt
den Acker einer armen Witwe zum Gedeihen gesegnet; nun sei er in der
Richtung der nahen Waldkapelle fortgezogen.
Obwohl es schon dunkel werden wollte, nahm der Edle rasch Abschied,
sprang auf sein Roß und sprengte dem Walde zu. Bald stieß er auf zwei
Wanderer: einen ehrwürdigen Greis mit klarem, tiefem
Blick, einen Jüngling unscheinbaren Gesichtes, unscheinbarer
Kleidung, aber sehr gerader Haltung. Der Edle sprang vom Pferd,
verneigte sich tief und sprach: »Darf ich den Meister der Liebe
grüßen? Ist mir verstattet, ihn zu begleiten?«
Der Greis antwortete nicht. Er winkte still, aber freundlich mit der
Hand, während der Jüngling regungslos dastand. Der Edle freute sich des
bescheidenen Gebarens. Gerne wollte er der Hand dieses
Greises folgen. Er verehrte ihn schon lange, nun fand er ihn
liebenswert. Er nahm sein Pferd an den Zügel und schritt neben den
beiden Wanderern einher, der hereinbrechenden Nacht zu. Es war ihm
peinvoll, ein Pferd zu haben, während seine Begleiter so arm durch
die Welt zogen.
Da begegnete ihnen ein Bettler. Der Alte reichte ihm die Hand und
schenkte ihm einen Kreuztaler. Der Jüngling blieb stumm stehen. Dem
Edlen kam ein schöner Gedanke. Er ging auf den Bettler zu und
bot ihm sein Pferd zum Geschenk. Hocherfreut nahm jener die Gabe des
Edlen an. Als der Bettler das Pferd davon führte, murmelte der Alte ein
Wort des Lobes. »Das war mein erster Unterricht beim
Meister der Liebe«, dachte der Edle erfreut, »das Weitere wird schon
kommen.« Eins nur war ihm befremdlich: Der Jüngling zuckte die Achseln.
Sie kamen bald an die Waldkapelle. Dicht dabei war ein
Buschwächterhaus. Der Wächter war gestorben, Frau und Tochter aber
wohnten noch im Haus. Sie erlaubten den Fremden, zu übernachten. Diese
machten dafür am Morgen Holz klein und trugen Wasser herbei. Der
Jüngling grub noch einige Beete im Garten um. Sie machten sich dann auf
den Weg. Des Buschwächters Töchterlein brachte zum
Abschied Veilchen, jedem Wanderer einen Veilchenstrauß. Dann winkte
sie den Fremden nach. Schon beim nächsten Schritt warf der Jüngling sein
Sträußlein hinter sich. Und wieviel das Mädchen auch
winkte, er schaute kein einziges Mal zurück.
Der Alte blickte den Jüngling verwundert an, sagte aber nichts. »Der
Grobian«, dachte der Edle. »Und so etwas tut er beim Meister der
Liebe?« Mittags kamen sie an ein Nonnenkloster. Dessen
Vorsteherin war weit und breit berühmt wegen ihrer Sanftmütigkeit.
Niemand erinnerte sich, daß je ein böses Wort über ihre Lippen gekommen
war. Die gütige Vorsteherin ließ die Fremdlinge mit
herrlicher Speise laben. Auf die Bitte des Edlen führte sie sie dann
noch durch die einfachen und doch so stimmungsvollen Gemächer. »Hier
das Zimmer meiner Andacht«, sagte sie leise. Sie wies in
einen kleinen, matt erhellten Raum. Das Sonnenlicht brach sich in
einer zartgoldenen Fensterscheibe. In ihrem Rahmen lächelte holdselig
ein wundersames Bildnis der heiligen Cäcilia. Alle traten
scheuen Schrittes ein. Der Jüngling stolperte voran. Er wollte mit
dem Stab gegen die Scheibe weisen, glitt aus und fiel ins Fenster.
Scheiben klirrten zu Boden, die anderen schrien auf. »O, es
ist Glasl« rief er gleichsam befriedigt.
Die greise Führerin bebte. Tränen traten ihr in die Augen, Röte
schoß ihr ins Gesicht. »Nehm' sich der Flegel besser in achtl Verzeih
ihm Gott die Sündel« Und schluchzend wandte sie sich zum
Alten: »Das ist das Bild, vor dem ich seit vierzig Jahren täglich
gebetet habe.« Der Alte war betreten. Aber er zuckte nur mit den
Achseln.
Dem Edlen brannte sein Stab in der Hand. Aber er schaute immer nur
den alten Mann mit dem klaren, tiefen Blick an. Als jener tief demütig
die Hand der Vorsteherin küßte, dachte er: »Welch ein
Meister der Liebe ist er doch. Ja, bei ihm werde ich wahrhaft groß!«
Als sie aber wieder auf dem Wege waren, nahm er den Alten ein wenig bei
Seite und flüsterte ihm zu: »Ihr sollt doch euren
Begleiter da etwas weniger verziehen!« Der Alte schüttelte den Kopf.
Am Abend kamen sie in die Stadt. Sie gingen zu einem Arzte, der eben
ein großes Buch vollendet hatte. Er hieß, fremden Besuches viel
gewohnt, die drei herzlich willkommen. »Übernachten könnt ihr
in meiner Studierstube, wenn euch der Staub nicht zu dick ist.« Der
Alte lächelte: »Wir kommen von der Landstraße.«
Bald war er in tiefem Gespräch mit dem Arzte, die andern hörten zu.
Sie hörten, wie der Greis erzählte von der Wirkung der im Frühling
blühenden Pflanze, von der Wirkung der im Herbst blühenden,
von einfachen Kräutern, die nur bei gewisser Mondstellung
heilkräftig werden, von hundert Geheimnissen des innigen Verbundenseins
von Pflanze und Mensch. Der Arzt hörte andächtig zu. Er schrieb
sich Bemerkungen auf. Er hatte einen Packen von Blättern schon zum
Buch gefügt; jetzt band er sie auf und schrieb hier und schrieb dort,
während der Alte freudig erzählte. »Ein Meister der Liebe
und des Wissens!« so staunte unser Edler.
Da es noch nicht weit im Jahr war, und der Abend kühl wurde, machte
man im Kamin ein Feuer. Man wollte den Duft junger Blüten atmen, und so
blieb ein Fenster offen. Der Alte erzählte, der Arzt
schrieb; die anderen hörten zu. Niemand schien zu merken, wie am
Abendhimmel eine dunkle Wolke heraufkam. Plötzlich fuhr ein Windstoß ins
Zimmer und packte einige Blätter. Jäh wirbelten sie in
den Garten hinaus. Der Arzt, der Alte, der Edle, alle drei stürzten
nach in den Garten. Ein Regenguß war nah. Weh, wenn die kostbaren
Blätter verwischt oder zerfetzt würden. Immer stärkere Stöße
folgten. Alle haschten und haschten. Niemand merkte, daß der
Jüngling im Zimmer blieb.
Endlich gelang es, alle Blätter zu fassen. »Das hätte bös werden
können«, sagte der Arzt atemlos. Glücklich traten die drei wieder in die
Stube. Aber wie taumelten sie zurück, als ihnen dicker
Qualm entgegenschlug. Ein Windstoß hatte die übrigen Blätter gepackt
und zum Kamin geweht. Einige Fetzen, verkohlt und verschrumpft, flogen
im Zimmer herum. Ein dickes Bündel glühte über dem
Holz. Der Jüngling stand vor dem Kamin, hielt seinen Mantel
ausgebreitet, daß ja kein Blatt ins Zimmer fliege. Der Arzt sank
ohnmächtig nieder. Der Greis war erschüttert. Er schloß das Fenster
und legte dem Ohnmächtigen ein nasses Tuch auf die Stirn. Der
Jüngling trat zu dem Ohnmächtigen und hielt einen Augenblick seine Hand
auf dessen Stirn. Der Arzt erwachte. »Hab Dank!«. »Nicht
diesem, nicht diesem«, schrie der Edelmann auf. »Er hat ja - -.« Er
konnte nicht vollenden. Der Alte packte ihn am Arm und zog ihn hinaus.
Bald waren sie wieder im Wald. Als die ersten Bäume sie
umfingen, blieb der Edle stehen.
»Meister der Weisheit, das ist zu viel. Der steht dabei, läßt ein
Lebenswerk verbrennen und schämt sich nicht des Dankes. Herr, wie kannst
du es dulden?
Treib ihn fort, der nicht wert ist, dein Schüler zu sein. Oder ich
muß dich noch heute verlassen.« Der Alte schrak zusammen. Dann raunte
er: »Herr, halt an. Nicht er der Schüler. Ich - - nur
Schüler. Er - - der Meister der Liebe.« Der Edle glaubte zu träumen.
»Jener - - - der Meister der Liebe?«
Ihm schwindelte. »Herr, wenn das Liebe ist und du der Schüler dieser
Liebe bist, dann bin ich toll oder die Welt. Ich sehe, man hat meiner
gespottet: Ich scheide, noch jetzt.« Er wollte sich zum
Gehen wenden.
Der Jüngling trat vor. »Nimm noch den Sinn!« Sein Gesicht war verwandelt.
Sein Auge strahlte sonnenstark. Sein ganzes Wesen atmete Gnade. Der
Edle verstummte. Als der Alte diese Veränderung sah, flüsterte er ihm
zu: »Glaubst du bald, daß ich nicht zu alt bin, jenes
Meisters Schüler zu sein?«
Da die beiden andern sich setzten, ließ sich auch der Edle nieder.
Der Jüngling sprach. »Du wunderst dich dessen, was du heute sahst? Und
dennoch tat ich Schwacher nur Dienste der Liebe.
Daß ich den Veilchenstrauß von mir warf, hatte guten Grund. Das
Mädchen, welches einem anderen die Treue gelobt, hatte Liebe zu meiner
Gestalt gefaßt. Hätte ich nur einmal noch umgeschaut, sie
hätte in einem einzigen Blick ihre Treue verloren, für immer. So war
ich hart im Dienste der Liebe. Die Vorsteherin des Klosters war ganz
umgarnt von süßlicher Frömmigkeit und versteckter
Eitelkeit. Die Menschen hielten sie keines Vergehens mehr fähig. Sie
sagten, sie sei selbst ein Engelwesen geworden, der heiligen Cäcilia
gleich, vor der sie täglich kniete. Da deckte ich ihr die
Teufelsfratze in ihrer Seele auf. Da machte ich frischen Zug und
wurde tölpelhaft aus Liebe. Der Arzt lief Gefahr, über seinem
Buchschreiben einzuschlafen. Bücherschreiben ist ihm nichts Neues.
Das konnte er schier, als er noch in der Wiege lag. Aber dies Leben
verlangt Neues von ihm. Es berief ihn zum Heiler. Drum ließ ich das
Buch, das ich hätte retten können, ruhig verglimmen. Ich
faßte die verbrannte Weisheit in dem Worte seines neuen Lebens
zusammen und legte ihm dieses Wort aufs Haupt. Es wird in seinem Haupte
wurzeln, in seinem Herzen blühen. Er wird noch morgen einem
Kranken, den er nicht mehr besuchen wollte, das Leben retten; er
wird heilen. Und in der Todesstunde wird er den Frühlingsabend segnen,
an dem sein Buch verbrannte! So war ich ein Narr - auch aus
Liebe. Hier ist der Sinn. Sein schwacher Diener bin ich nur.«
Der Greis neigte ergriffen das Haupt: »Mein Meister, mein Meister!«
Der Edle stand auf. Für ihn begann ein neues Leben. »Ich danke dir.
Ein halbes Leben hab ich mich bereitet, drei Jahre suchte ich, einen Tag
schaute ich. Nun gehe ich; für den Rest meiner Jahre
hab ich genug zu tun.« Der Jüngling reichte ihm die Hand und hielt
sie lange. »Geh nur und wirke. Doch bedenke dein Wirken, bis du
heimreitest.«
Noch einmal staunte der Edle. »Ich - heimreiten? Gab ich nicht mein
Pferd gestern abend hin im Anfangsunterricht der Liebe?« »Der Liebe? Ich
sehe, mein neuer Freund wird den Sinn dieses Wortes
noch länger suchen, als ich dachte. Der Bettler, dem du dein Pferd
gabst, war ein schwerer Verbrecher.
Dein Roß war ihm willkommen zur Flucht vor dem Tod. Aber jetzt hängt
er schon am Galgen. Man faßte ihn, als er im Wirtshaus Branntwein
bestellen wollte für einen blinkenden Kreuztaler. Es war das
Wirtshaus, wo man dir meine Spur wies. Geh nur dorthin, dort steht
dein Pferd, angebunden an der Krippe. Geh in Frieden, mein Freund: ich
sehe gute Frühlingswege für Reiter und Roß.«
Der Edle ging. Ein Stück Weges begleitete ihn der Alte, der so jung
war im Lernen. Es war ganz still geworden. Als sie an den Waldsaum
kamen, sahen sie, wie junges Mondlicht und Sternenglanz auf
die Straße fielen. Der Duft kommender Blumen hob den Busen der Erde.
»Wandre zu in den Frühling«, sagte grüßend der Alte. Der Edle ging.
Jeder Schritt sprach ein Wort:
Ja, Frühling, jetzt kenn ich dich,
dich kenn ich seit heute,
dich, der du Sturm bringst, und Blüten im Sturm.
Du selber - ein Meister der Liebe !
---
Herbert Hahn aus: Das goldene Kästchen. Erzählungen, Legenden, Märchen. Stuttgart 1981. 160 S. (Herbert Hahn gehörte 1919, zusammen mit Rudolf Steiner zum Gründungskollegium der ersten Waldorfschule in Stuttgart.)