Ein Meister der Liebe - von Herbert Hahn

Durch die Länder der untergehenden Sonne wanderte vor Zeiten ein Mann, der viel von sich reden machte. Man erzählte sich Wunder über Wunder von seinem Wirken, den Meister der Liebe nannte man ihn. Es war und blieb eigen, daß man nie wußte, wo er gerade weilte. Er tauchte geheimnisvoll auf und verschwand geheimnisvoll. Meist begleitete ihn einer der eifrigeren Schüler.

Ein Edelmann, dem weniger an seinem Namen, als an seinem Werden und Wachsen lag, wollte den Meister der Liebe kennen lernen. Viel Mühe und viele Mittel hatte er schon ans Lernen gewandt. Nie scheute er auch viele Mittel und Mühe, die Fährte des Meisters der Liebe zu suchen. Er suchte fast drei Jahre, von Land zu Land, rastlos. Eines Abends kam er in ein Dorf, wo er hörte, wenige Stunden zuvor sei der Meister der Liebe dagewesen. Er habe zuletzt den Acker einer armen Witwe zum Gedeihen gesegnet; nun sei er in der Richtung der nahen Waldkapelle fortgezogen.

Obwohl es schon dunkel werden wollte, nahm der Edle rasch Abschied, sprang auf sein Roß und sprengte dem Walde zu. Bald stieß er auf zwei Wanderer: einen ehrwürdigen Greis mit klarem, tiefem Blick, einen Jüngling unscheinbaren Gesichtes, unscheinbarer Kleidung, aber sehr gerader Haltung. Der Edle sprang vom Pferd, verneigte sich tief und sprach: »Darf ich den Meister der Liebe grüßen? Ist mir verstattet, ihn zu begleiten?«

Der Greis antwortete nicht. Er winkte still, aber freundlich mit der Hand, während der Jüngling regungslos dastand. Der Edle freute sich des bescheidenen Gebarens. Gerne wollte er der Hand dieses Greises folgen. Er verehrte ihn schon lange, nun fand er ihn liebenswert. Er nahm sein Pferd an den Zügel und schritt neben den beiden Wanderern einher, der hereinbrechenden Nacht zu. Es war ihm peinvoll, ein Pferd zu haben, während seine Begleiter so arm durch die Welt zogen.

Da begegnete ihnen ein Bettler. Der Alte reichte ihm die Hand und schenkte ihm einen Kreuztaler. Der Jüngling blieb stumm stehen. Dem Edlen kam ein schöner Gedanke. Er ging auf den Bettler zu und bot ihm sein Pferd zum Geschenk. Hocherfreut nahm jener die Gabe des Edlen an. Als der Bettler das Pferd davon führte, murmelte der Alte ein Wort des Lobes. »Das war mein erster Unterricht beim Meister der Liebe«, dachte der Edle erfreut, »das Weitere wird schon kommen.« Eins nur war ihm befremdlich: Der Jüngling zuckte die Achseln.

Sie kamen bald an die Waldkapelle. Dicht dabei war ein Buschwächterhaus. Der Wächter war gestorben, Frau und Tochter aber wohnten noch im Haus. Sie erlaubten den Fremden, zu übernachten. Diese machten dafür am Morgen Holz klein und trugen Wasser herbei. Der Jüngling grub noch einige Beete im Garten um. Sie machten sich dann auf den Weg. Des Buschwächters Töchterlein brachte zum Abschied Veilchen, jedem Wanderer einen Veilchenstrauß. Dann winkte sie den Fremden nach. Schon beim nächsten Schritt warf der Jüngling sein Sträußlein hinter sich. Und wieviel das Mädchen auch winkte, er schaute kein einziges Mal zurück.

Der Alte blickte den Jüngling verwundert an, sagte aber nichts. »Der Grobian«, dachte der Edle. »Und so etwas tut er beim Meister der Liebe?« Mittags kamen sie an ein Nonnenkloster. Dessen Vorsteherin war weit und breit berühmt wegen ihrer Sanftmütigkeit. Niemand erinnerte sich, daß je ein böses Wort über ihre Lippen gekommen war. Die gütige Vorsteherin ließ die Fremdlinge mit herrlicher Speise laben. Auf die Bitte des Edlen führte sie sie dann noch durch die einfachen und doch so stimmungsvollen Gemächer. »Hier das Zimmer meiner Andacht«, sagte sie leise. Sie wies in einen kleinen, matt erhellten Raum. Das Sonnenlicht brach sich in einer zartgoldenen Fensterscheibe. In ihrem Rahmen lächelte holdselig ein wundersames Bildnis der heiligen Cäcilia. Alle traten scheuen Schrittes ein. Der Jüngling stolperte voran. Er wollte mit dem Stab gegen die Scheibe weisen, glitt aus und fiel ins Fenster. Scheiben klirrten zu Boden, die anderen schrien auf. »O, es ist Glasl« rief er gleichsam befriedigt.

Die greise Führerin bebte. Tränen traten ihr in die Augen, Röte schoß ihr ins Gesicht. »Nehm' sich der Flegel besser in achtl Verzeih ihm Gott die Sündel« Und schluchzend wandte sie sich zum Alten: »Das ist das Bild, vor dem ich seit vierzig Jahren täglich gebetet habe.« Der Alte war betreten. Aber er zuckte nur mit den Achseln.

Dem Edlen brannte sein Stab in der Hand. Aber er schaute immer nur den alten Mann mit dem klaren, tiefen Blick an. Als jener tief demütig die Hand der Vorsteherin küßte, dachte er: »Welch ein Meister der Liebe ist er doch. Ja, bei ihm werde ich wahrhaft groß!« Als sie aber wieder auf dem Wege waren, nahm er den Alten ein wenig bei Seite und flüsterte ihm zu: »Ihr sollt doch euren Begleiter da etwas weniger verziehen!« Der Alte schüttelte den Kopf.

Am Abend kamen sie in die Stadt. Sie gingen zu einem Arzte, der eben ein großes Buch vollendet hatte. Er hieß, fremden Besuches viel gewohnt, die drei herzlich willkommen. »Übernachten könnt ihr in meiner Studierstube, wenn euch der Staub nicht zu dick ist.« Der Alte lächelte: »Wir kommen von der Landstraße.«

Bald war er in tiefem Gespräch mit dem Arzte, die andern hörten zu. Sie hörten, wie der Greis erzählte von der Wirkung der im Frühling blühenden Pflanze, von der Wirkung der im Herbst blühenden, von einfachen Kräutern, die nur bei gewisser Mondstellung heilkräftig werden, von hundert Geheimnissen des innigen Verbundenseins von Pflanze und Mensch. Der Arzt hörte andächtig zu. Er schrieb sich Bemerkungen auf. Er hatte einen Packen von Blättern schon zum Buch gefügt; jetzt band er sie auf und schrieb hier und schrieb dort, während der Alte freudig erzählte. »Ein Meister der Liebe und des Wissens!« so staunte unser Edler.

Da es noch nicht weit im Jahr war, und der Abend kühl wurde, machte man im Kamin ein Feuer. Man wollte den Duft junger Blüten atmen, und so blieb ein Fenster offen. Der Alte erzählte, der Arzt schrieb; die anderen hörten zu. Niemand schien zu merken, wie am Abendhimmel eine dunkle Wolke heraufkam. Plötzlich fuhr ein Windstoß ins Zimmer und packte einige Blätter. Jäh wirbelten sie in den Garten hinaus. Der Arzt, der Alte, der Edle, alle drei stürzten nach in den Garten. Ein Regenguß war nah. Weh, wenn die kostbaren Blätter verwischt oder zerfetzt würden. Immer stärkere Stöße folgten. Alle haschten und haschten. Niemand merkte, daß der Jüngling im Zimmer blieb.

Endlich gelang es, alle Blätter zu fassen. »Das hätte bös werden können«, sagte der Arzt atemlos. Glücklich traten die drei wieder in die Stube. Aber wie taumelten sie zurück, als ihnen dicker Qualm entgegenschlug. Ein Windstoß hatte die übrigen Blätter gepackt und zum Kamin geweht. Einige Fetzen, verkohlt und verschrumpft, flogen im Zimmer herum. Ein dickes Bündel glühte über dem Holz. Der Jüngling stand vor dem Kamin, hielt seinen Mantel ausgebreitet, daß ja kein Blatt ins Zimmer fliege. Der Arzt sank ohnmächtig nieder. Der Greis war erschüttert. Er schloß das Fenster und legte dem Ohnmächtigen ein nasses Tuch auf die Stirn. Der Jüngling trat zu dem Ohnmächtigen und hielt einen Augenblick seine Hand auf dessen Stirn. Der Arzt erwachte. »Hab Dank!«. »Nicht diesem, nicht diesem«, schrie der Edelmann auf. »Er hat ja - -.« Er konnte nicht vollenden. Der Alte packte ihn am Arm und zog ihn hinaus. Bald waren sie wieder im Wald. Als die ersten Bäume sie umfingen, blieb der Edle stehen.

»Meister der Weisheit, das ist zu viel. Der steht dabei, läßt ein Lebenswerk verbrennen und schämt sich nicht des Dankes. Herr, wie kannst du es dulden?

Treib ihn fort, der nicht wert ist, dein Schüler zu sein. Oder ich muß dich noch heute verlassen.« Der Alte schrak zusammen. Dann raunte er: »Herr, halt an. Nicht er der Schüler. Ich - - nur Schüler. Er - - der Meister der Liebe.« Der Edle glaubte zu träumen. »Jener - - - der Meister der Liebe?«

Ihm schwindelte. »Herr, wenn das Liebe ist und du der Schüler dieser Liebe bist, dann bin ich toll oder die Welt. Ich sehe, man hat meiner gespottet: Ich scheide, noch jetzt.« Er wollte sich zum Gehen wenden.

Der Jüngling trat vor. »Nimm noch den Sinn!« Sein Gesicht war verwandelt.

Sein Auge strahlte sonnenstark. Sein ganzes Wesen atmete Gnade. Der Edle verstummte. Als der Alte diese Veränderung sah, flüsterte er ihm zu: »Glaubst du bald, daß ich nicht zu alt bin, jenes Meisters Schüler zu sein?«

Da die beiden andern sich setzten, ließ sich auch der Edle nieder. Der Jüngling sprach. »Du wunderst dich dessen, was du heute sahst? Und dennoch tat ich Schwacher nur Dienste der Liebe.

Daß ich den Veilchenstrauß von mir warf, hatte guten Grund. Das Mädchen, welches einem anderen die Treue gelobt, hatte Liebe zu meiner Gestalt gefaßt. Hätte ich nur einmal noch umgeschaut, sie hätte in einem einzigen Blick ihre Treue verloren, für immer. So war ich hart im Dienste der Liebe. Die Vorsteherin des Klosters war ganz umgarnt von süßlicher Frömmigkeit und versteckter Eitelkeit. Die Menschen hielten sie keines Vergehens mehr fähig. Sie sagten, sie sei selbst ein Engelwesen geworden, der heiligen Cäcilia gleich, vor der sie täglich kniete. Da deckte ich ihr die Teufelsfratze in ihrer Seele auf. Da machte ich frischen Zug und wurde tölpelhaft aus Liebe. Der Arzt lief Gefahr, über seinem Buchschreiben einzuschlafen. Bücherschreiben ist ihm nichts Neues. Das konnte er schier, als er noch in der Wiege lag. Aber dies Leben verlangt Neues von ihm. Es berief ihn zum Heiler. Drum ließ ich das Buch, das ich hätte retten können, ruhig verglimmen. Ich faßte die verbrannte Weisheit in dem Worte seines neuen Lebens zusammen und legte ihm dieses Wort aufs Haupt. Es wird in seinem Haupte wurzeln, in seinem Herzen blühen. Er wird noch morgen einem Kranken, den er nicht mehr besuchen wollte, das Leben retten; er wird heilen. Und in der Todesstunde wird er den Frühlingsabend segnen, an dem sein Buch verbrannte! So war ich ein Narr - auch aus Liebe. Hier ist der Sinn. Sein schwacher Diener bin ich nur.«

Der Greis neigte ergriffen das Haupt: »Mein Meister, mein Meister!«

Der Edle stand auf. Für ihn begann ein neues Leben. »Ich danke dir. Ein halbes Leben hab ich mich bereitet, drei Jahre suchte ich, einen Tag schaute ich. Nun gehe ich; für den Rest meiner Jahre hab ich genug zu tun.« Der Jüngling reichte ihm die Hand und hielt sie lange. »Geh nur und wirke. Doch bedenke dein Wirken, bis du heimreitest.«

Noch einmal staunte der Edle. »Ich - heimreiten? Gab ich nicht mein Pferd gestern abend hin im Anfangsunterricht der Liebe?« »Der Liebe? Ich sehe, mein neuer Freund wird den Sinn dieses Wortes noch länger suchen, als ich dachte. Der Bettler, dem du dein Pferd gabst, war ein schwerer Verbrecher.

Dein Roß war ihm willkommen zur Flucht vor dem Tod. Aber jetzt hängt er schon am Galgen. Man faßte ihn, als er im Wirtshaus Branntwein bestellen wollte für einen blinkenden Kreuztaler. Es war das Wirtshaus, wo man dir meine Spur wies. Geh nur dorthin, dort steht dein Pferd, angebunden an der Krippe. Geh in Frieden, mein Freund: ich sehe gute Frühlingswege für Reiter und Roß.«

Der Edle ging. Ein Stück Weges begleitete ihn der Alte, der so jung war im Lernen. Es war ganz still geworden. Als sie an den Waldsaum kamen, sahen sie, wie junges Mondlicht und Sternenglanz auf die Straße fielen. Der Duft kommender Blumen hob den Busen der Erde. »Wandre zu in den Frühling«, sagte grüßend der Alte. Der Edle ging. Jeder Schritt sprach ein Wort:

Ja, Frühling, jetzt kenn ich dich,
dich kenn ich seit heute,
dich, der du Sturm bringst, und Blüten im Sturm.
Du selber - ein Meister der Liebe !

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Herbert Hahn aus: Das goldene Kästchen. Erzählungen, Legenden, Märchen. Stuttgart 1981. 160 S. (Herbert Hahn gehörte 1919, zusammen mit Rudolf Steiner zum Gründungskollegium der ersten Waldorfschule in Stuttgart.)