Wer glaubt, wird selig.

Niemals wäre die Menschheit so weit gekommen ohne solche Brüder, welche in der Entwickelung ihren andern Mitmenschen weit, weit vorangeschritten waren. Zu allen Zeiten, immer und überall hat es Menschen gegeben, die sich rascher die Stufen des Daseins hinaufentwickelten, um Führer sein zu können, um die andere Menschheit leiten zu können. Solche Persönlichkeiten, solche Individualitäten werden von der Geistesforschung die Hüter der Weisheit, die Hüter des Menschenfortschrittes genannt.

Solche Hüter des Menschenfortschrittes hat es immer gegeben. Es gibt sie auch heute noch. Diese großen Individualitäten, diese Persönlichkeiten, die heute auf einer Stufe des Daseins angekommen sind, wohin die Mehrzahl der Menschheit erst in einer fernen, fernen Zukunft kommen wird, waren auch in den vorchristlichen Zeiten, in den zwei ersten Vierteln der Menschheitsentwickelung vorhanden. Sie leiteten die Welt, sie waren die Behüter der Menschheit und brachten Ordnung und Zusammenhang in die Menschheit.

Wo hatten jene Leiter des Menschengeschlechts ihr Wissen, ihre Weisheit her? Und worin bestand diese Weisheit?

Man leitete das Sichtbare durch das Unsichtbare, das Sinnliche durch das Übersinnliche. Man leitete die materiellen Zusammenhänge durch dasjenige, was im Materiellen unsichtbar schlummert.

Schlummert es im Materiellen unsichtbar? Ein einfaches Nachdenken kann Sie davon überzeugen. Sehen Sie hinauf zur Wolke. Sie erscheint Ihnen hell und dunkel. Sie kündigt Ihnen ein Gewitter an. Und während Sie noch hinaufsehen, zuckt der Blitz durch die Wolke, rollt der Donner. Wo war der Blitz, wo war der Donner? Sie schlummerten, sie schliefen als verborgene materielle Kräfte.

So wie Blitz und Donner schlummerten, so schlummern noch eine Menge verborgener Kräfte in dem Sichtbaren als Unsichtbares, in dem Sinnlichen als Übersinnliches.

So wie unsere ganze äußere Kultur im Grunde genommen dahin gekommen ist, wo sie ist, dadurch daß der Mensch gelernt hat, die einfach in der Materie schlummernden Kräfte und Fähigkeiten zu wecken, so kommt die große geistige Kultur davon her, daß die Hüter der Menschheit imstande sind, die im Sinnlichen schlummernden übersinnlichen Kräfte, die im Irdischen schlummernden überirdischen Fähigkeiten zu erwecken und das Niedere durch das Höhere zu beherrschen vermögen.

So wie der Baumeister die Anziehungskräfte der Erde benützt, um auf die Säule den Balken zu legen, also eine in der Materie schlummernde Kraft benützt, um durch die verschiedene Kombination von Säulen und Balken unsere Gebäude aufzuführen, und wie der Elektriker unsere Motoren und andere elektrische Apparate mit der unsichtbaren elektrischen Kraft beherrscht, so beherrschen die Hüter der Weisheit und des Menschheitsfortschrittes die irdischen Kräfte durch dasjenige, was nicht sinnlich in der Welt vorhanden ist.

Das Sichtbare wird nicht durch das Sichtbare beherrscht, sondern durch das Unsichtbare.

Nicht derjenige ist weltfremd, der sich erheben wird durch das Unsichtbare über das Sichtbare, sondern derjenige, der am Sichtbaren hängenbleibt.

Der wahre Wirklichkeitsmensch ist der, welcher die Welt beherrscht durch das, was in ihm schlummert, damit er die Wirklichkeit gestalten, aufbauen und in den Dienst des Menschheitsfortschrittes stellen kann.

So wie der Baumeister und der Elektriker die in der Materie schlummernden Kräfte benützen, um Häuser zu bauen, um mechanische Kultur zu schaffen, so benützen die großen Hüter der Weisheit und des Menschheitsfortschrittes die im Menschentum liegenden Kräfte, um die Menschen selbst zu ihrem Ziele zu führen, um dasjenige, was in der Außenwelt chaotisch durcheinanderwirbelt, zu gliedern und ihm Bedeutung zu geben.

Niemals war die Fortentwickelung von der instinktiven, dann gesetzmäßigen [verstandesmäßigen] Periode herauf bis zu der unsrigen sinnlich. Das aber mußten die weisen Hüter der Menschen erst erfahren, erst erlebt haben, sie mußten davon ganz durchdrungen sein, nicht aus blindem Glauben, nicht aus vagen Überzeugungen, sondern aus geistiger Erfahrung heraus.

Sie mußten sich klar darüber sein, daß es ein Übersinnliches gibt, ein Übersinnliches in und außer dem Menschen, daß das, was sich abspielt zwischen Geburt und Tod, nur die eine Seite unseres Daseins ist und daß es einen Wesenskern gibt, der hinausreicht über Geburt und Tod, daß es im Menschen etwas gibt, was umfassender als alles Sinnliche ist, was der Schöpfer der Gestalt und der Erhalter alles Sinnlichen ist, und dies nicht etwa aus einer Vermutung, sondern aus der unmittelbaren übersinnlichen, ewigen Anschauung heraus.

Aus dieser Anschauung heraus mußten die Hüter der Menschheit handeln, dann aus der Erkenntnis heraus, daß der Tod zu besiegen ist, daß ein Bewußtsein zu erringen ist, daß es etwas gibt, was den Tod als ein Ereignis wie andere Ereignisse im Leben erscheinen läßt. Nur aus einer solchen Erfahrung heraus erwächst dem Menschen die Kraft, das Sinnliche aus dem Übersinnlichen, das Sichtbare aus dem Unsichtbaren heraus zu beherrschen.

Soll ich also mit wenigen Worten sagen, worin das große Geheimnis derjenigen, die wir die großen Hüter der Menschheit nennen, bestand, so muß ich sagen, diese Hüter der Weisheit und des Menschheitsfortschrittes wußten, daß es im Menschen etwas gibt, das den Tod besiegt. Sie mußten hinter die Kulissen des Daseins, hinter die Regionen des Daseins sehen, die der Mensch betritt, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist.

Das, was hinter dem Sinnlichen liegt, mußte ihnen durch die Erfahrung zugänglich sein. Und dieses hinter der sinnlichen Welt Liegende lernten sie kennen in den sogenannten Einweihungstempeln, in den Einweihungstempeln der alten ägyptischen Priester und Geheimlehrer, in den Schulen der eleusinischen und anderer griechischer Einweihungstempel.

Diejenigen, welche reif waren, diese Überzeugungen sich zu erwerben, wurden in diese Geheimnisse eingeweiht. Nur mit wenigen Worten alles übrige wird in den nächsten Vorträgen herauskommen kann ich andeuten, was in diesen Einweihungstempeln, in diesen hohen Schulen des geistigen Lebens den Menschen überliefert worden ist.

Nur wenige, einzelne Auserlesene, konnten in solcher Weise, unmittelbar durch die Schau, teilhaftig werden an dem höheren geistigen Leben.

Von einem solchen, der Anteil genommen hat an der geistigen Welt, weil er sie geschaut hat, sagte man, er ist selig.

Die Menge hatte keinen andern Anteil als den an den Verkündigungen solcher Schauenden, solcher Eingeweihten.

Da trat das Christentum auf, und durch das Christentum wurden diese ganzen Verhältnisse anders.

Darin liegt die ganze Tiefe der Umwandlung, welche durch das Christentum in der Menschheit bewirkt worden ist. Sie ist ausgedrückt in einem gewaltigen Wort, und das heißt: «Selig sind diejenigen, die da glauben, auch wenn sie nicht schauen.»

Das Geheimnis des Christentums liegt in diesem Wort, und wir verstehen es nur, wenn wir es möglichst wörtlich nehmen. Was heißt es? Wir wissen, daß derjenige, welcher in einem Einweihungstempel die Einweihung erfahren hatte, wußte, daß er den Tod besiegte, daß er die Grablegung mitmachte und selig geworden ist durch die Schau.

Nun kam eine große Individualität, die auf dem äußeren Plane der Geschichte vor aller Augen, so weit diese Augen es sehen wollten oder es durch den Glauben, durch die Vereinigung mit der einzigartigen Persönlichkeit aufnehmen konnten, dieses große Ereignis, das sich für die Eingeweihten in dem tiefen Dunkel der Mysterientempel so oft abgespielt hatte, einmal äußerlich auf dem geschichtlichen Plane vollzog. Das war das Ereignis, das sich im Jahre 33 in Palästina abspielte.

Das, was bis dahin mehr oder weniger symbolisch in den Tiefen der Tempel empfangen und gehütet worden ist, das war jetzt historische Wahrheit, geschichtliche Wirklichkeit auf der großen Bühne des Lebens geworden. Das muß man verstehen, denn das ist wichtig.

Ich habe wirklich mit vollem Bedacht meine kleine Schrift über das Christentum nicht: «Die Mystik des Christentums» betitelt, sondern «Das Christentum als mystische Tatsache». Ich wollte nicht das Mystische des Christentums darstellen, sondern das Christentum selbst sollte als mystische Tatsache verstanden werden. Das ist es, worauf es ankommt.

Jetzt haben wir ein Ereignis vor alle hingestellt, welches ausspricht vor allen Menschen, daß der Tod zu besiegen ist und daß es im Geiste ein Leben gibt, das über allen Tod hinausreicht, denn der Einzige hatte den Tod besiegt. Er hatte dasjenige, was die Eingeweihten als ihre Erfahrung in den Mysterien erlebt haben, vor aller Augen dargelebt.

Jetzt brauchte man nicht mehr ins Mysterium hineinzugehen, um zu schauen, jetzt konnte man glauben und sich verbunden fühlen mit demjenigen, der in der physischen Welt das große Ereignis vom Siege des Lebens über den Tod dargelebt hat. Jetzt konnte man glauben, wenn man auch nicht schaute. Derjenige versteht die religiösen Bücher richtig, der sich wieder aufringt zu einem wörtlichen Verstehen. Das Schauen bedeutet nämlich wörtlich das Schauen in den Mysterien, und das Glauben ist der Glaube an die Tatsache der Besiegung des Todes durch das Leben, das Christus uns dargestellt hat.

So dürfen wir sagen, daß die größte Weisheitslehre des Christentums die ist, daß die Weisheitslehre der verschiedenen Religionen im Christentum zur Tatsache geworden ist.

Quelle: https://anthrowiki.at/GA_54 S. 260 ff