Der Eros gilt dem ›Anderen‹ im emphatischen Sinne, der sich ins Regime
des Ich nicht einholen lässt. In der Hölle des Gleichen, der die heutige
Gesellschaft immer mehr ähnelt, gibt es daher keine ›erotische
Erfahrung‹. Sie setzt die Transzendenz, die radikale Singularität des
Anderen voraus. Der heutige Terror der Immanenz, der alles zum
Gegenstand der Konsumtion macht, zerstört das erotische ›Begehren‹.
Nicht zufällig heißt Sokrates als Geliebter ›atopos‹. Der Andere, den
ich begehre und der mich fasziniert, ist ortlos. Er entzieht sich der
Sprache des Gleichen. Es ist ein Kennzeichen der immer narzisstischer
werdenden Gesellschaft von heute, dass der ›Andere‹ verschwindet -
fatalerweise unbemerkt.
Die Müdigkeitsgesellschaft, in der man
erschöpft von sich selbst ist, ohne sich zum ›Anderen‹ hin befreien zu
können, ist eine Gesellschaft ohne Eros. (Verlagswerbung)
Zwei Auszüge:
"Wir leben heute in einer Gesellschaft, die zunehmend narzistischer wird. Die Libido wird primär in die eigene Subjektivität investiert. Der Narzissmus ist keine Eigenliebe. Das Subjekt der Eigenliebe nimmt zugunster seiner selbst eine negative Abgrenzung vom Anderen vor. Das narzisstische Subjekt kann dagegen seine Grenzen nicht klar festlegen. So verschwimmt die Grenze zwischen ihm und dem Anderen. Ihm erscheint die Welt nur in Abschattungen seiner selbst. Es ist nicht fähig, den anderen in seiner Andersartigkeit zu erkennen und diese Andersheit anzuerkennen. Bedeutungen gibt es nur dort, wo es sich selbst irgendwie wiedererkennt. Es watet überall im Schatten seiner selbst, bis es in sich ertrinkt.
Die Depression ist eine narzisstische Erkrankung. Zu ihr führt der überspannte, krankhaft übersteuerte Selbstbezug. Das narzisstisch-depressive Subjekt ist erschöpft und zermürbt von sich selbst. Es ist weltlos und verlassen vom Anderen. Eros und Depression sind einander entgegengesetzt. Der Eros reißt das Subjekt aus sich heraus auf den Anderen hin. Die Depression stürzt es dagegen in sich selbst."
"Eros wird bei Platon philosophos, Freund der Weisheit, genannt. Der Philosoph ist ein Freund, ein Liebhaber. Dieser Liebhaber ist aber keine äußere Person, kein empirischer Umstand, sondern eine "innere Gegenwart im Denken, eine Möglichkeitsbedingung des Denkens selbst, eine lebendige Kategorie, ein transzendentales Erleben"(68). Das Denken im empathischen Sinn hebt erst mit Eros an. Ein Freund, ein Liebhaber muss man gewesen sein, um denken zu können."
68 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M. 1996, S.7.
Das Buch:
Byung-Chul Han, Agonie des Eros, Matthes & Seitz Berlin, 2012
Eine Besprechung:
Agonie des Eros (Autor: Byung Chul Han), Buchvorsteller: Thomas Holtbernd