Der Mensch kann sich in richtiger Art nur über sich aufklären, wenn er sich die Bedeutung des Denkens innerhalb seiner Wesenheit klarmacht. Das Gehirn ist das leibliche Werkzeug des Denkens. Wie der Mensch nur mit einem wohlgebildeten Auge Farben sehen kann, so dient ihm das entsprechend gebaute Gehirn zum Denken. Der ganze Leib des Menschen ist so gebildet, dass er in dem Geistesorgan, im Gehirn, seine Krönung findet.
Man kann den Bau des menschlichen Gehirnes nur verstehen, wenn man es im Hinblick auf seine Aufgabe betrachtet. Diese besteht darin, die Leibesgrundlage des denkenden Geistes zu sein. Das zeigt ein vergleichender Überblick über die Tierwelt. Bei den Amphibien ist das Gehirn noch klein gegenüber dem Rückenmark; bei den Säugetieren wird es verhältnismäßig größer. Beim Menschen ist es am größten gegenüber dem ganzen übrigen Leib.
Gegen diese Bemerkungen über das Denken, wie sie hier vorgebracht werden, herrscht manches Vorurteil. Manche Menschen sind geneigt, das Denken zu unterschätzen und das «innige Gefühlsleben», die «Empfindung», höher zu stellen. Ja man sagt wohl: nicht durch das «nüchterne Denken», sondern durch die Wärme des Gefühls, durch die unmittelbare Kraft der Empfindungen erhebe man sich zu den höheren Erkenntnissen. Menschen, die so sprechen, fürchten, durch klares Denken die Gefühle abzustumpfen.
Beim alltäglichen Denken, das sich nur auf die Dinge der Nützlichkeit bezieht, ist das sicher der Fall. Aber bei den Gedanken, die in höhere Regionen des Daseins führen, tritt das Umgekehrte ein. Es gibt kein Gefühl und keinen Enthusiasmus, die sich mit den Empfindungen an Wärme, Schönheit und Gehobenheit vergleichen lassen, welche angefacht werden durch die reinen, kristallklaren Gedanken, die sich auf höhere Welten beziehen. Die höchsten Gefühle sind eben nicht diejenigen, die «von selbst» sich einstellen, sondern diejenigen, welche in energischer Gedankenarbeit errungen werden.
Text: Steiner, Rudolf; Theosophie (1904), S. 26