Wenn du in einen Spiegel schauen könntest, würdest du ein großes Tier sehen, mit einem langen, dünnen Hals, einem kleinen Kopf und ziemlich gestreckten, schlanken Beinen. Wahrscheinlich wiegst du etwas zwischen 300 und 700 Kilogramm und du hast lustige Füße. Nur dein dritter und vierter Zeh sind entwickelt, deine übrigen Zehen sind völlig rückgebildet. Von den zwei Zehen berührst du nur mit dem vorletzten und letzten Glied den Boden. Diese Geh-Zehen ruhen auf einem elastischen Polster aus Bindegewebe, deiner breiten Sohlenfläche. Damit kannst du hervorragend über Sand gehen, ohne einzusinken. Wegen deiner Füße würde ein moderner Biologe so über dich reden: Kamele gehören zur Ordnung der Paarhufer und innerhalb dieser zur Unterordnung Schwielensohler. Die Familie ist die der Säugetiere. In dieser Familie gibt es zwei Gruppen: Altweltkamele und Neuweltkamele.
Warum nur die Altweltkamele Kamel heißen, hängt mit der Sprache zusammen: Früher hießt du bei uns olbente. Große Reiseleute aus Europa brachten aber vor vielen Hundert Jahren das arabische Wort dschamal mit. Mit dem Griechischen und Lateinischen verwandelte sich dein Name schließlich in das heutige Wort Kamel. Später entdeckte man in Amerika aber neue Kamele. Darum seid ihr, du, das Kamel und dein naher Verwandter das ein-höckrige Dromedar, die Altweltkamele. Die Neuweltkamele heißen Lama, Guanako, Alpaka und Vikunja und sind alle viel kleiner als du und das Dromedar.
Als du noch wild warst, hießt du Trampeltier. Aber seit mehr als fünf Tausend Jahren haben wir deine wilde Natur besänftigt. Nur in China und der Mongolei leben noch einige wilde Trampeltiere. Von deinem ein-höckrigen Verwandten, dem Dromedar, gibt es schon seit 2000 Jahren keine Wilden mehr. Gezähmt und erzogen kannst du für uns viele Sachen tragen und auch kräftig ziehen. Zum Beispiel bei langen Reisen durch die Wüste oder beim Heraufpumpen von Wasser aus tiefen Brunnen. Deine Milch und dein Fleisch geben immer noch sehr vielen Menschen Kraft und Stärke. Dein Haar, das man die immer wieder abschert, gibt Sonnenschutz und Wärme. Viele Menschen mögen es wegen seines geringen Gewichts und seiner besonderen Feinheit. Es gilt als eines der edelsten Naturhaare, weil es besonders weich und leicht, extrem anschmiegsam und sehr gut klimatisierend ist. Du warst vielerorts und bist sogar manchmal so wertvoll, dass man dich lebendig als Zahlungsmittel verwendet. Manchmal wurdest du sogar gegen Menschen eingetauscht.
Eine deiner auffälligsten Besonderheiten ist dein Gang, der Passgang. Alle anderen großen Vierbeiner bewegen immer abwechselnd ein linkes und ein rechts Bein. Du bewegst immer abwechselnd das linke und rechte Beinpaar. Dadurch bekommt dein Körper beim Gehen so ein eigenartiges Schunkeln, was dir den Namen Wüstenschiff eingebracht hat. Mit unseren Kühen hast du auch Ähnlichkeiten: Du bist ein Wiederkäuer und hast einen mehrkammerigen Magen - nicht nur für Hauptspeise und Nachtisch. Mit deinem vierstufigen Magen kannst du einfach besser Pflanzen verdauen.
Wegen deiner Heimat, wo es meist sehr trocken ist, hast du auch einige sehr merkwürdige Merkmale entwickelt, die alle mit Wasser zu tun haben. Zuerst einmal kann dein Körper aus der Nahrung sehr viel mehr Wasser herausziehen, als viele andere Tiere. Das heißt, du musst viel weniger Austreten als zum Beispiel wir. Auch deine roten Blutkörperchen sehen anders aus, als unsere. Sie sind nicht rund, sondern oval. Das bewirkt, dass du in kürzester Zeit sehr viel Wasser aufnehmen kannst ohne Gefahr zu laufen zu überwässern. Wenn du richtig durstig bist kannst du bis zu 200l in 15 Minuten trinken - das sind ungefähr 1.000 Gläser. Deine Nase kann Feuchtigkeit aus der Luft ziehen und wenn ein Sandsturm kommt, machst du sie mit deinen großen Nüstern einfach zu. Deine Artgenossen der Neuwelt können wegen der ovalen Form ihrer Blutkörperchen zwar nicht besser trinken, aber viel besser den Sauerstoff aus der Luft aufnehmen - was ihnen das Leben in den hohen Anden erleichtert.
Über deine Höcker denken die meisten Menschen, dass du darin Wasser speicherst. Aber das tust du nicht. Du speicherst darin Fett. Wenn also einer deiner Höcker lasch und schlapp zur Seite hängt, solltest du mehr zu Essen bekommen - und zwar nur Pflanzen, und hauptsächlich Gräser. Dein Körper kann aber auch dornige und salzige Sträucher vertragen, wenn die nächste Oase mit saftigem Gras mal wieder zu weit weg ist. Damit du auf dem langen Weg durch die große Hitze nicht zu viel schwitzt, kannst du auch deine Körpertemperatur regulieren - um bis zu 8°C nach unten. Cool, oder?
Leider ist dein Familienleben nicht mehr ganz so aufregend wie in freier Natur. Heute wirst du meist gezüchtet, aber früher lebten Kamele in Haremsgruppen. Das heißt, ein Männchen hatte mehrere Weibchen und viel eigenen, vornehmlich weiblichen Nachwuchs um sich. Heranwachsende Männchen wurden nämlich immer aus ihrer Geburtsgruppe vertrieben. Oft waren sie in Junggesellengruppen unterwegs, und zogen Ärger verursachend umher. Wie Jugendliche das nun mal so tun. Um als Heranwachsender selbst Führer einer Haremsgruppe zu werden, musste man erbittert kämpfen. Denn, wie damals üblich, durfte nur der Stärkere seine Gene weitergeben. Und wenn die Gene weitergegeben wurden, brachte das Weibchen in der Regel ein einzelnes Fohlen zur Welt - nach einer Tragzeit von etwas mehr als einem Jahr.
Das Junge, dein Kind, wird von Natur aus als Nestflüchter geboren. Das heißt, es kann schon nach kurzer Zeit selbständig gehen und mit der Gruppe weiterziehen. Nach rund einem Jahr wird es entwöhnt, nach zwei bis drei Jahren ist es geschlechtsreif. Deine eigene Lebenserwartung liegt übrigens deutlich über deiner Kollegen aus der neuen Welt. Die werden nur bis zu 28 Jahren alt. Du kannst 40 oder sogar 50 Jahre alt werden.
Ich hoffe, du weißt jetzt was du bist und wie besonders du bist. Zum Abschluss erzähle ich dir noch eine der vielen Geschichten, in der Kamele vorkommen. Das ist die Geschichte vom 18. Kamel und dem weisen Mullah:
“Ein Mullah ritt auf seinem Kamel nach Medina; unterwegs sah er eine Herde von Kamelen; daneben standen drei junge Männer, die offenbar sehr traurig waren. ‘Was ist euch geschehen, Freunde?’ fragte er, und der älteste antwortete: ‘Unser Vater ist gestorben.’ ‘Allah möge ihn segnen. Das tut mir leid für euch. Aber er hat euch doch sicherlich etwas hinterlassen?’ ‘Ja’, antwortete der junge Mann, ‘diese siebzehn Kamele. Das ist alles, was er hatte.’
‘Dann seid doch fröhlich! Was bedrückt euch denn noch?’ ‘Es ist nämlich so’, fuhr der älteste Bruder fort, ‘sein letzter Wille war, dass ich die Hälfte seines Besitzes bekomme, mein jüngerer Bruder ein Drittel und der jüngste ein Neuntel. Wir haben schon alles versucht, um die Kamele aufzuteilen, aber es geht einfach nicht.’ ‘Ist das alles, was euch bekümmert, meine Freunde?’ fragte der Mullah. ‘Nun, dann nehmt für einen Augenblick mein Kamel, und lasst uns sehen, was passiert.’
Von den jetzt achtzehn Kamelen bekam jetzt der älteste Bruder die Hälfte, also neun Kamele; neun blieben übrig. Der mittlere Bruder bekam ein Drittel der achtzehn Kamele, also sechs; jetzt waren noch drei übrig. Und weil der jüngste Bruder ein Neuntel der Kamele bekommen sollte, also zwei, blieb ein Kamel übrig. Es war das Kamel des Mullahs; er stieg wieder auf und ritt weiter und winkte den glücklichen Brüdern zum Abschied lachend zu”. (aus Segal, L.: Das 18. Kamel oder Die Welt als Erfindung. Zum Konstruktivismus Heinz von Foersters, München/Zürich 1988)