Idealismus & Freiheitssinn - ohne Kampf

Lou Salomé in „Und Nietzsche weinte“ von Irvin D. Yalom, Piper, 2005:
„Doch wir sind Freigeister und Idealisten, wir lehnen gesellschaftlich diktierte Regeln ab. Wir vertrauen auf unsere Kraft, uns eigene moralische Maßstäbe zu setzen.“
Das Eingangszitat laß ich im Zug auf der Fahrt von Paris nach Straßburg. Mir gefiel die Aussage sofort. In vielerlei Hinsicht vertrete ich diese Auffassung. Ich denke jedoch auch, dass es gesellschaftliche Regeln geben muss, um die sehr komplexen zwischenmenschlichen Verflechtungen zu organisieren und zu überschauen.

Der Konflikt in der Realität ist allerdings offensichtlich: Oft kann ich einigen Regeln nichts abgewinnen und versuche sie zu durchbrechen, in dem ich mich ihnen verweigere. Andererseits kann ich mich auch immer wieder beobachten, wie ich Regeln aufnehme und unüberlegt nach ihnen handele. Längeres Nachdenken darüber brachte mich zu einer Lösung:

Lou Salomé macht etwas kluges. Sie stemmt sich den gesellschaftlich diktierten Regeln nicht einfach so entgegen und landet dann im leeren, regel- und ordnungslosen Raum, sondern Sie vertraut auf ihre eigene Wahrnehmung und ihr eigenes Handeln. Sie ist der Ansicht, dass die eigenen moralischen Vorstellungen auf die Gesellschaft übertragbar sind.

Woherher kommt dieses Vertrauen? Hat sie das Recht, ihre eigenen Maßstäbe als Grundlage ihres Handelns anzunehmen?

Ich traue mich bereits, mich in vielen verschiedenen Situationen so zu verhalten, wie ich denke, dass es richtig, angebracht und authentisch ist. Ich prüfe mein Handeln anhand meiner humanistischen Bildung und meines Gefühls dabei. Die übrige Gesellschaft würde vielleicht von außen betrachtet anders handeln, kann man meinen - oder wissen. Da ich aber weiß, aus mir selbst heraus weiß, dass mein Handeln respektvoll und würdigend ist, humanistisch und menschenfreundlich, handle ich aus meiner Sicht heraus "richtig", manchmal aber anders als die Gesellschaft es anscheinend verlangt, vorausgesetzt ich kann erkennen, was die gesellschaftliche, mir widersprechende Regel ist.

Ich glaube, dass man leicht einem Irrtum aufsitzt, wenn man sein eigenes Handeln aus dem Blickwinkel der Gesellschaft zu sehen versucht, oder überhaupt menschliches Verhalten aus dem Blickwinkel der Gesellschaft heraus betrachten will. Keiner hat einen universellen Blickwinkel der Gesellschaft für sich allein. Jeder hat nur seinen eigenen Blickwinkel - und ein mehr oder weniger scharfes Bild von dem, was die Gesellschaft für einen Blickwinkel hat; es gibt Hinweise wie Gesetze, Stammtischmeinungen und allgemeine Äußerungen. Aber bereits dort vermischen sich verschiedene Dimensionen wie Staat, Kultur und Persönlichkeiten.

Für mich ist die Gesellschaft eine Gemeinschaft von Individuen, die innerlich verschieden sind (oder auch ähnlich oder gleich), die sich äußerlich auf einen Regelkanon geeinigt haben, der größtmögliche Ordnung, Sicherheit oder etwas anderes verspricht. Vielleicht sind einige dieser Regeln das Produkt echter Menschlichkeit. In einer echten Demokratie ist das anzunehmen.

Heute, genauso wie früher, kommen aber einige Regeln auch von oben herab ins Volk, sind also die Ausgeburt weniger Machtinhaber, die Einfluss auf die Gesellschaft haben. Ich kann nur sehr schwer erfahren, was die Gesellschaft, die Gesamtheit aller Individuen als wertvoll empfindet oder betrachtet; vor allem dann, wenn ich von Seiten des Staates über Medien dessen Regeln kommuniziert bekomme. Ich habe nur meinen eigenen Erfahrungshorizont, den aus mir heraus und den, den ich mit meinen Mitmenschen teil. Alles andere ist eine Interpretation verschiedener „geäußerter“ Sichtweisen. Es stehen sich also in Wirklichkeit nicht Gesellschaft und Individuum gegenüber, sondern ehrliche, individuelle Menschlichkeit und gedankliche Einbildung als die konstruierte Realtität.

Oft ist das eigenverantwortliche Handeln das richtige - richtig im Sinne von authentisch und ehrlich, angebracht und menschlich. Häufig zeigt sich im Nachhinein, dass der eigene Maßstab gut und richtig war, aber dass das Bild und der Eindruck, den man fälschlicherweise vom "Richtig" hat, nicht die Wirklichkeit widerspiegelt. Man geht also irrtümlich der Annahme, dass das persönliche Verhalten von der Gesellschaft missbilligt wird. Insofern unterwirft man sich einer gesellschaftlichen unmenschlichen Regel, die es zu geben scheint - oder deren Existenz einfach behauptet wird. Bedenken, die dadurch entstehen, sind also hausgemacht und nur für sich selbst geltend wirklich.

Würde es sie real geben, diese das Verhalten bestimmende, unmenschliche Regel, müsste man sich ihr widersetzen, da sie untauglich ist und unehrlich. Zur Zeit von Lou Salomé gab es mehr Regeln dieser Art als heute. Wir können von Glück sprechen, dass wir in einer so freien Gesellschaft leben, in der es nur noch sehr wenige dieser Art von Regeln gibt. In keiner anderen Gesellschaft wird es einem moralisch denkenden und handelnden Menschen leichter gemacht, sich zu verwirklichen. Wir können als Freigeister und Idealisten leben, in dem Vertrauen an unsere eigenen Maßstäbe, weil wir Menschen sind.

Engagieren wir uns, dass das so bleibt.