Das Große posaunet sich nie aus, es ist bloß und wirkt so. Meist weiß das Große nicht, dass es groß ist, daher die höchsten Künstler der Welt die lieblichste, kindlichste Naivität haben und dem Ideale gegenüber, das sie immer leuchten sehen, stets demütig sind.
Albert Stifter an Aurelius Buddeus, 21.August 1847
In meiner Jugend dominierte eine feste Überzeugung. Ich war damals der Meinung, dass man das Leben, wenn man es richtig erleben möchte, nur in Extremen mitbekommen darf: Extrem frei, extrem laut, extrem individuell, extrem dicht!
Das war zwar eine Zeit lang intensiv, aber nicht erfüllend. Dann habe ich vom „Mittelweg“ gehört, vom buddhistischen "Ausgeglichen-sein" gelesen. Ich probierte es einmal kurz aus. Aber es erschien mir nicht als das Wahre. Zu langweilig war es. Ich mochte die Extreme. Die waren wenigstens lebendig. Sie bescherten mir extreme Gefühle. Ich dachte also, dass der Mittelweg langweilig sei, so wie ich ihn damals verstand. Für mich bedeutete er: Keine Liebe mehr, keine Trauer mehr, kein Glück mehr, kein Unglück mehr. Dumpfe Zufriedenheit stellte ich mir als Mittelweg vor.
Einige Jahre später, nachdem ich vorerst bei den Extremen geblieben war, beschlich mich mit zunehmender Bildung und Umsicht der Eindruck, dass es auch noch einen anderen „Mittelweg“ geben müsse, einen lebendigen, der glücklich machen könnte, einen Weg, der nicht so anstrengend wäre, wie das ständige auf und ab von Extrem zu Extrem.
Also beschloss ich, weiterhin alle Höhen und Tiefen des Lebens mitzunehmen und mir zusätzlich einen Grundstock, eine Basis der guten Laune und der Ausgeglichenheit, zuzulegen. Wenn schon Mittelweg, dann auf hohem Niveau. Aber er sollte nicht ausschließen, dass ich Höhen und Tiefen intensiv erleben kann.
In dieser Aufgabe bin ich nun schon ein ganzes Stück vorangekommen. Das heißt, dass ich mir schon einen gutes Fundament angelegt habe. Ein eigenes, freies und gutes Fundament. Auf diesem Fundament, kann ich mir vorstellen, kann sich ein Leben aufbauen.
Die Wirkung dieser stabilen Grundlage, die Ausgeglichen-sein erschafft, ist interessant: Ich lasse mich nicht mehr von Krisen in die Tiefe zerren. Tief bleibt tief, aber ich kentere nicht schon auf dem Weg nach unten. In Wirklichkeit, so meine ich inzwischen, hindert der Mittelweg nicht daran, ein exktatisches Leben zu leben, sondern er schützt davor, sich von "Zufällen" und "Schicksalsschlägen" aus der Bahn werfen zu lassen.
Das geistige Niveau meines Mittelwegs entscheidet also mit über den Einfluss der Mächte, die mein Leben lenken. Höhen bleiben Höhen - und ich genieße sie in vollen Zügen. Tiefen bleiben Tiefen - und ich erkenne sie als Chance zum Neuanfang. Diese Erkenntnis ist für mich ein Aspekt geistiger Größe.