Abgewiesen wird alles, was die volle Entfaltung der Kräfte des Einzelnen hemmt. „Ein jeglicher muss seinen Helden wählen, dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet,“ gilt nicht mehr für uns. Wir lassen uns keine Ideale aufdrängen; wie sind überzeugt, dass in jedem von uns etwas lebt, das edel ist und wert, zur Entwicklung zu kommen, wenn wir nur tief genug, bis in den Grund unseres Wesens, hinabzusteigen vermögen.
Wir glauben nicht mehr daran, dass es einen Normalmenschen gibt, zu dem alle hinstreben sollen. Unsere Anschauung von der Vollkommenheit des Ganzen ist die, dass es auf der besonderen Vollkommenheit jedes einzelnen Individuums beruht. Nicht das, was jeder andere auch kann, wollen wir hervorbringen, sondern, was nach der Eigentümlichkeit unseres Wesens nur uns möglich ist, soll als unser Scherflein der Weltentwicklung einverleibt werden.
Niemals wollten die Künstler weniger wissen von Normen und Regeln der Kunst als heute. Jeder behauptet ein Recht zu haben, das künstlerisch zu gestalten, was ihm eigen ist. Es gibt Dramatiker, die lieber im Dialekt schreiben, als in einer von der Grammatik geforderten Normalsprache.
Keinen besseren Ausdruck kann ich finden für diese Erscheinungen als den: sie gehen hervor aus dem bis aufs Höchste gesteigerten Freiheitsdrang des Individuums. Wir wollen nach keiner Richtung abhängig sein; und wo Abhängigkeit sein muss, da ertragen wir sie nur, wenn sie mit einem Lebensinteresse unseres Individuums zusammenfällt.
Ein solches Zeitalter kann die Wahrheit nur aus der Tiefe des menschlichen Wesen schöpfen wollen. Von Schillers bekannten zwei Wegen:
„Wahrheit suchen wir beide, du außen im Leben, ich innenwird der Gegenwart vorzüglich der zweite frommen. Eine Wahrheit, die von außen kommt, trägt immer der Stempel der Unsicherheit an sich. Nur was einem jeden von uns in seinem eigenen Innern als Wahrheit erscheint, daran mögen wir glauben.
In dem Herzen, und so findet sie jeder gewiss.
Ist das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer,
Ist es das Herz, dann gewiss spiegelt es innen die Welt.“
Nur die Wahrheit kann uns Sicherheit bringen im Entwickeln unserer individuellen Kräfte. Wer von Zweifeln gequält ist, dessen Kräfte sind gelähmt. In einer Welt, die ihm rätselhaft ist, kann er kein Ziel seines Schaffens finden.
Wir wollen nicht mehr bloß glauben; wir wollen wissen. Der Glaube fordert Anerkennung von Wahrheiten, die wir nicht ganz durchschauen. Was wir aber nicht ganz durchschauen, widerstrebt dem Individuellen, das alles mit seinem tiefsten Innern durchleben will. Nur das Wissen befriedigt uns, das keiner äußeren Norm sich unterwirft, sondern aus dem Innenleben der Persönlichkeit entspringt.
Wir wollen auch kein solches Wissen, das in eingefrorenen Schulregeln sich ein für allemal ausgestaltet hat, und in für alle Zeiten gültigen Kompendien aufbewahrt ist. Wir halten uns jeder berechtigt, von seinen nächsten Erfahrungen, seinen unmittelbaren Erlebnissen auszugehen, und von da aus zur Erkenntnis des ganzen Universums aufzusteigen. Wir erstreben ein sicheres Wissen, aber jeder auf seine eigene Art.
Unsere wissenschaftlichen Lehren sollen auch nicht mehr eine solche Gestalt annehmen, als wenn ihre Anerkennung Sache eines unbedingten Zwanges wäre. Keiner von uns möchte einer wissenschaftlichen Schrift einen Titel geben, wie einst Fichte: «Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen.» Heute soll niemand zum Verstehen gezwungen werden.
Wen nicht ein besonderes, individuelles Bedürfnis zu einer Anschauung treibt, von dem fordern wir keine Anerkennung, noch Zustimmung. Auch dem noch unreifen Menschen, dem Kinde, wollen wir gegenwärtig keine Erkenntnisse eintrichtern, sondern wir suchen seine Fähigkeiten zu entwickeln, damit es nicht mehr zum Verstehen gezwungen zu werden braucht, sondern verstehen will.
Ich gebe mich keiner Illusion hin in bezug auf diese Charakteristik meines Zeitalters. Ich weiß, wie viel individualitätsloses Schablonentum lebt und sich breit macht. Aber ich weiß ebenso gut, dass viele meiner Zeitgenossen im Sinne der angedeuteten Richtung ihr Leben einzurichten suchen. Ihnen möchte ich diese Schrift widmen. Sie soll nicht «den einzig möglichen» Weg zur Wahrheit führen, aber sie soll von demjenigen erzählen, den einer eingeschlagen hat, dem es um Wahrheit zu tun ist.
Die Schrift führt zuerst in abstraktere Gebiete, wo der Gedanke scharfe Konturen ziehen muss, um zu sichern Punkten zu kommen. Aber der Leser wird aus den dürren Begriffen heraus auch in das konkrete Leben geführt. Ich bin eben durchaus der Ansicht, dass man auch in das Ätherreich der Begriffe sich erheben muss, wenn man das Dasein nach allen Richtungen durchleben will. Wer nur mit den Sinnen zu genießen versteht, der kennt die Leckerbissen des Lebens nicht.
Die orientalischen Gelehrten lassen die Lernenden erst Jahre eines entsagenden und asketischen Lebens verbringen, bevor sie ihnen mitteilen, was sie selbst wissen. Das Abendland fordert zur Wissenschaft keine frommen übungen und keine Askese mehr, aber es verlangt dafür den guten Willen, kurze Zeit sich den unmittelbaren Eindrücke des Lebens zu entziehen, und in das Gebiet der reinen Gedankenwelt sich zu begeben.
Der Gebiete des Lebens sind viele. Für jedes einzelne entwickeln sich besondere Wissenschaften. Das Leben selbst aber ist eine Einheit, und je mehr die Wissenschaften bestrebt sind, sich in die einzelnen Gebiete zu vertiefen, desto mehr entfernen sie sich von der Anschauung des lebendigen Weltganzen. Es muss ein Wissen geben, das in den einzelnen Wissenschaften die Elemente sucht, um den Menschen zum vollen Leben wieder zurückzuführen.
Der wissenschaftliche Spezialforscher will sich durch seine Erkenntnisse ein Bewusstsein von der Welt und ihren Wirkungen erwerben; in dieser Schrift ist das Ziel ein philosophisches: die Wissenschaft soll selbst organischlebendig werden. Die Einzelwissenschaften sind Vorstufen der hier angestrebten Wissenschaft.
Ein ähnliches Verhältnis herrscht in den Künsten. Der Komponist arbeitet auf Grund der Kompositionslehre. Die letztere ist eine Summe von Kenntnissen, deren Besitz eine notwendige Vorbedingung des Komponierens ist. Im Komponieren dienen die Gesetze der Kompositionslehre dem Leben, der realen Wirklichkeit. Genau in demselben Sinne ist die Philosophie eine Kunst. Alle wirklichen Philosophen waren Begriffskünstler. Für sie wurden die menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik.
Das abstrakte Denken gewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben. Die Ideen werden Lebensmächte. Wir haben dann nicht bloß ein Wissen von den Dingen, sondern wir haben das Wissen zum realen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht; unser wirkliches, tätiges Bewusstsein hat sich über ein bloß passives Aufnehmen von Wahrheiten gestellt.
Wie sich die Philosophie als Kunst zur Freiheit des Menschen verhält, was die letztere ist, und ob wir ihrer teilhaftig sind oder es werden können: das ist die Hauptfrage meiner Schrift. Alle anderen wissenschaftlichen Ausführungen stehen hier nur, weil sie zuletzt Aufklärung geben über jene, meiner Meinung nach, den Menschen am nächsten liegenden Fragen. Eine «Philosophie der Freiheit» soll in diesen Blättern gegeben werden.
Alle Wissenschaft wäre nur Befriedigung müßiger Neugierde, wenn sie nicht auf die Erhöhung des Daseinswertes der menschlichen Persönlichkeit hinstrebte. Den wahren Wert erhalten die Wissenschaften erst durch eine Darstellung der menschlichen Bedeutung ihrer Resultate. Nicht die Veredlung eines einzelnen Seelenvermögens kann Endzweck des Individuums sein, sondern die Entwicklung aller in uns schlummernden Fähigkeiten. Das Wissen hat nur dadurch Wert, dass es einen Beitrag liefert zur allseitigen Entfaltung der ganzen Menschennatur.
Diese Schrift fasst deshalb die Beziehung zwischen Wissenschaft und Leben nicht so auf, dass der Mensch sich der Idee zu beugen hat und seine Kräfte ihrem Dienst weihen soll, sondern in dem Sinne, dass er sich der Ideenwelt bemächtigt, um sie zu seinen menschlichen Zielen, die über die bloß wissenschaftlichen hinausgehen, zu gebrauchen.
Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.
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Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Zweiter Anhang (Vorrede zur 1. Auflage von 1884)