Die Vorstellung des eigenen oder fremden Wohles wird mit Recht als ein Motiv des Wollens angesehen. Das Prinzip, durch sein Handeln die größte Summe eigener Lust zu bewirken, das ist, die individuelle Glückseligkeit zu erreichen, heißt Egoismus.
Diese individuelle Glückseligkeit wird entweder dadurch zu erreichen gesucht, dass man in rücksichtsloser Weise nur auf das eigene Wohl bedacht ist und dieses auch auf Kosten des Glückes fremder Individualitäten erstrebt (reiner Egoismus),
oder dadurch, dass man das fremde Wohl aus dem Grunde befördert, weil man sich dann mittelbar von den glücklichen fremden Individualitäten einen günstigen Einfluss auf die eigene Person verspricht,
oder weil man durch Schädigung fremder Individuen auch eine Gefährdung des eigenen Interesses befürchtet (Klugheitsmoral).
Der besondere Inhalt der egoistischen Sittlichkeitsprinzipien wird davon abhängen, welche Vorstellung sich der Mensch von seiner eigenen oder der fremden Glückseligkeit macht.
Nach dem, was einer als ein Gut des Lebens ansieht (Wohlleben, Hoffnung auf Glückseligkeit, Erlösung von verschiedenenübeln usw.), wird er den Inhalt seines egoistischen Strebens bestimmen.
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Rudolf Steiner - Die Philosophie der Freiheit, Kapitel IX, 1894,
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4. Auflage 2010