Mein Ritual

„Du bist wirklich schon 33?“ Susan Busen, die luxuriöse Spanierin, konnte es nicht glauben. „Du siehst aus wie 27.“ Ich grinste wie ein Schneemann. „Das ist Rekord.“ Sechs Jahre jünger hatte mich noch niemand geschätzt. „Ich kann dir sogar sagen, woran das liegt. Meine Hülle wird von den universellen Geheimnissen von Gesundheit und Jugend frisch gehalten. Ich weihe dich gerne in die geheimen Praktiken ein.“ Susan Busens Blick verriet, dass sie beim Wort Praktiken an Sex dachte. „Wieso Praktiken?“ Offensichtlich waren ihre Gedanken ihrem Blick gefolgt, trauten sich aber nicht in den Busch. „Weil es nicht nur Schminke und Frisur sind, die mich jung wirken lassen.“ „Was denn noch?“ Dass ich vorgab, mich zu schminken, schien sie kalt zu lassen. „Meine Fußtechnik natürlich“, sagte ich mit ernstem Tonfall, lehnte mich zurück und berührte unter dem Tisch mit meinem Fuß die Innenseite ihrer Oberschenkel. Sie grinst einseitig und trank mein Bier aus.

Vor einiger Zeit fiel mir ein dickes, blaues Buch über die universellen Geheimnisse ewiger Jugend in die Hand. Ein Kapitel handelte von Körperpflege. Der Autor beschrieb, wie wichtig Bewegung und Massagen für die Reinigung der Zellen seien: Atembewegungen massieren den Bauch, Yogabewegungen massieren Muskeln und Sehnen. Mit den kreisenden Bewegungen von Haut- und Haarbürste könnte man Haut und Lymphgewebe massieren. Das sei sehr sehr gut, schrieb er, sehr sehr gut, denn das Lymphgewebe sei ein wesentlicher Bestandteil unseres Immunsystems. Es transportiert, seiner Erkenntnis nach, Dreck und tote Bakterien ab. Es wäre gut, es durch Bewegungen und Massagen jeden Morgen zu aktivieren. Wer jung, fit und gesund bleiben möchte, käme um die Bürst-Maßnahme nicht herum. Als ich nach der Lektüre das nächste Mal im Drogeriemarkt den Regalhaken mit den handtellergroßen, vermeintlichen Pferdebüsten sah, wusste ich zum ersten Mal in meinem Leben, was man damit zu tun hatte.

Mein Ritual, das mich jung hält, findet jeden Morgen statt. Direkt nach dem Aufwachen. Ich stehe mit dem rechten Fuß auf, wanke mit meiner Bettdecke zum Fenster und begrüße das Tageslicht. Blinzelnd schaue ich nach draußen. Im Sommer kommt das Licht von der Sonne, mal fad durch Wolkenschleier, mal grell von hinterm Haus. Im Winter zaubern Straßenlaternen Schattenspiele in das Häuserlabyrinth. Nach dem Licht widme ich mich der Luft. Ich öffne das Fenster und werfe meine Bettdecke zum Lüften über den Rahmen. Eine Brise weht herein. Die Müdigkeit zischt hinaus. Ich begrüße den Tag, so wie er mich begrüßt. Wenn die Sonne lacht, grinse ich. Wenn ein Auto hupt, furze ich. So entfliehen böse Träume, die sich über Nacht verfangen haben. Stadtluft durchströmt Kissen und Lunge. Ich gehe ins Bad.

Im Bad schrubbe ich mich vor dem Duschen ab. Von oben bis unten. In kreisenden Bewegungen immer zum Herzen hin. Anschließend dusche ich warm, dann kalt, nach Doktor Kneipps Empfehlungen erst die Gliedmaßen und zu letzt den Rumpf. Brrrr. Das friert. Erst wenn ich mich an die Temperatur gewöhnt habe, den ersten Morgenschock überwunden habe, steige ich aus der Dusche. Aber ich werde belohnt. Jedes Mal, wenn ich das Ding mit der Kaltdusche tue, bin ich fit und wach und den Rest des Morgens angenehm warm, auch wenn eiskalte Winterluft mein Zimmer in der Zwischenzeit in eine sibirische Eishölle verwandelt hat und es schon vorkam, dass Eichhörnchen ein Iglu auf meinem verschneiten Teppich gebaut hatten. Eine Bienenwachskerze wirkt allerdings Wunder. Einmal entzündet taut jeglicher Schnee im nächsten Wimpernschlag. Den dritten Teil meines Rituals musste ich darum nie im Bärenfell machen, sondern mache ihn seit je her in Jogginghose: Fünfzehn Minuten Yoga, fünf Minuten Kraftübungen, fünfzehn Minuten Meditation. Details verschweige ich, weil es Geheimnisse sind. Wichtig ist lediglich, dass diese Handlungen stattfinden. Das ist mein Morgen. So oft ich ihn auf diese Weise erlebe, so oft fühle ich mich großartig. Und bärenstark. Von innen heraus. Und gleichzeitig fühle ich mich sanft und weich. Wie ein Bärenfell. Auch von innen heraus. Vor einiger Zeit schrieb ich meiner Freundin: Ein Tag, der mit Yoga beginnt, ist ein toller Tag. Ein Tag, der mit Meditation beginnt, ist ein großartiger Tag. Ein Tag, der mit meinem Ritual beginnt, lässt mich ein Mensch sein - der sich wie ein Bär fühlt.