Weil es so viel zu lesen gibt, lese ich viel. Zurzeit liegt vor mir zum ersten Mal eine Ausgabe der Zeitschrift Die Drei - Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben. Auf Seite 11 der Januarausgabe 2016 beginnt ein langer Artikel von Stephan Eisenhut mit dem Titel Die Evolution der religiösen Impulse. Ich habe den Text gelesen und bin beeindruckt - und erhellt. Was ist der Geist Mitteleuropas? Ich nehme vorweg: Es ist der Geist der Dichter & Denker (m/w) - in Persona der von J.W. Goethe. Na, überrascht? Irgendwie nein. Für mich folgt daraus auch schon die nächste Frage: Wie werde ich ein Goethe? Für Lesefähige und Selbstlesende gibt es einige Auszüge aus dem Artikel, die einladen dürfen, den ganzen Text in der Zeitschrift zu lesen.
„Es wird heute sehr viel Kraft darauf verwendet, die Bedeutung der äußeren geopolitischen Faktoren aufzuzeigen. Den inneren Faktoren wird schon sehr viel weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Diese zu verstehen war ein zentrales Anliegen Rudolf Steiners. Denn er verließ in seinen Betrachtungen die Ebene der Geopolitik und lenkte den Blick auf eine Ebene, die wir hier als geokulturell bezeichnen möchten.
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Doch geht es Steiner nicht darum, irgendwelche „europäischen Werte über andere Kulturen zu stellen, sondern einfach um die Tatsache, dass der Schwerpunkt der menschlichen Entwicklung sich in den letzten zweitausend Jahren vom Mittelmeerraum in den europäischen Norden verlagert hat. Die europäische Bevölkerung bildete dabei ein rein-irdisches Bewusstsein aus, wodurch das Gefühl für die Realität einer geistigen Welt verloren ging. Dadurch wurde zugleich eine vollständige Ablösung von den alten Bluts- und Rasseverbindungen möglich. Erst dadurch konnte ein Individualisierungsgrad erreicht werden, aus dem ein freies Verhältnis zum Geist gefunden werden kann. Damit kommt den Europäern eine enorme Verantwortung zu. Denn gelingt dieses nicht, so wendete sich diese europäische Geistigkeit - insbesondere auch in der Form, die sie in Nordamerika annehmen musste - gegen die menschliche Entwicklung.
Hier könnte eingewendet werden, dass sich doch nach dem 1.Weltkrieg die Kräfte, die die menschliche Entwicklung zu bestimmen scheinen, immer mehr nach Westen verlagert haben. Aus der Perspektive der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung betrachtet, ist das sicherlich zutreffend.
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In Europa hat sich jedoch in einer über Jahrtausende dauernden Entwicklung eine geokulturelle Konstellation herausgebildet, die einen geistigen Entwicklungsschritt der Menschheit ermöglichen könnte. Nur kann dieser Entwicklungsschritt nicht mehr von außen angestoßen werden, sondern muss in Freiheit von innen her durch eine genügend große Zahl von Menschen ergriffen werden. Die Katastrophen des 20.Jahrhunderts wie der 1. und 2. Weltkrieg sind ein Bild dafür, dass noch zu wenige Menschen diesen Entwicklungsschritt leisten konnten. Es wäre jedoch ein tragischer Irrtum zu glauben, dass Europa - insbesondere Mitteleuropa - seine Entwicklungsaufgabe damit verspielt habe. Rudolf Steiner - GA 194, S.213, GA 209 S.162
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Im 19. Jahrhundert gewinnt der Gegensatz zwischen England und Deutschland eine immer größere Bedeutung. Der Dualismus zwischen Staat und Wirtschaft bildet sich heraus. Doch in England gestaltet sich dieser so, dass die drei Glieder des sozialen Organismus immer mehr auseinanderdriften - es entsteht eine Dreiteilung und keine Dreigliederung - während in Deutschland diese Glieder sich zu eine „kompakten Masse“ verschmelzen.
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Der Unterschied zwischen England und Deutschland bei dieser Entwicklung liegt nun darin, dass sich in England diese Entwicklung wie naturhaft unter dem Einfluss der großen Handelsverhältnisse und des damit verbundenen Handelskapitals entwickelt hat, während diese Entwicklung in Deutschland zum Industrieland über den Umweg staatlicher Institutionen in Gang gesetzt wurde. Das Geistesleben hat sich hier mit dem politischen Staat verbunden. Das Staatsleben, das somit zum Ausdruck einer speziellen Form des Geisteslebens geworden war, machte dies Form wiederum zum Maßstab für das gesamte Geistesleben in Deutschland.
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Menschheit, Gruppe, Ich. Mit diesen Worten lassen sich die Gestaltungsprinzipien der drei Glieder des sozialen Organismus auf den Punkt bringen. Die Gewohnheiten des gegenwärtigen Menschen sind noch stark auf das Gestaltungsprinzip „Gruppe“ hinorientiert. Dieses Prinzip, das in einem echten demokratischen Rechtsleben seine Ausbildung finden müsste, wird in falscher Weise ins Geistes- und Wirtschaftsleben hineingetragen. Im Geistesleben wird versucht, das, was nur aus der einzelnen Individualität heraus sich fruchtbar in die Gemeinschaft stellen kann, dem Gruppenurteil zu unterwerfen, während man im Wirtschaftsleben glaubt, ganz auf das Urteil des Einzelnen setzten zu können. So wird aus dem englischen Sprachraum heraus das Prinzip der „freien Marktwirtschaft“ verteidigt. Die Willkürhandlungen des Einzelnen im Wirtschaftsleben erzeugen jedoch ein übermäßiges Regulierungsbedürfnis, aus dem ein alles erdrückender Bürokratieapparat hervorgeht. Das Wirtschaftsleben verträgt weder die aus dem Einzelurteil hervorgehende Willkür, noch eine überbordende Regulierung.
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Der Gegensatz Deutschland - England, der im ersten Weltkrieg eskalierte, lebt heute in dem Gegensatz USA - EU weiter, nur dass die Gegensätze jetzt stark ineinandergeschoben sind. England gehört formal zur EU, in seiner geistigen Orientierung eis es jedoch viel einer mit den USA verbunden. USA und EU stehen wiederum als gemeinsamer Block dem Osten gegenüber, innerhalb dessen Russland eine eine asiatische Verbindung gedrängt werden soll.
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Das charakteristische für Rudolf Steiners geokulturelle Betrachtungsweise ist, dass er auf der einen Seite beobachtet, in welcher Weise Völker in eine Beziehung treten - und zwar zunächst sehr gewalttätig -, wie dann aber ein Zusammenspiel entsteht, das sie in Zukunft zum Träger bestimmter geistiger Strömungen macht.
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Geokulturell betrachtet bildet sich somit mit Beginn der Neuzeit eine Signatur heraus, die Mitteleuropa unter den Einfluss vier religiöser Kräfte bringen. Vom Süden her wirkt der Katholizismus, der in den nordischen Völkern eine religiöse Gegenströmung, den Protestantismus hervorruft. Vom Westen her wirkt eine Kraft, die ein naturwissenschaftlich orientiertes, nominalistisches Geistesleben hervorbringt, das in seiner Konsequenz in den Atheismus führt.
Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben haben sich im englischsprachigen Westen verselbständigt, ohne eine Beziehung zueinander zu finden. In dem nominalistischen Geistesleben, welches sich in Westeuropa herausgebildet hat und das die theokratischen Gedankenformen konserviert, kann der Mensch keine Beziehungen zu einem realen Geistigen herstellen. Deswegen ist der Atheismus eine notwendige Folge dieses Geisteslebens. Dennoch wird im englischsprachigen Raum ein religiöses Leben gepflegt. Nur spielt das, was da äußerlich gepflegt wird, für die Gestaltung des politischen Lebens keine maßgebliche Rolle. Rudolf Steiner - GA 305, S. 194, GA 162 S. 176 ff.
Da jedoch aus dem Atheismus heraus kein Staat zu machen ist, verlegen sich die führenden Schichten darauf, aus dem Hintergrund die Dinge zu organisieren und anzuleiten, die sie zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung oder für die Umsetzung der staatlichen Interessen in der Welt für notwendig erachten. Dabei bedienen auch sie sich kultischer Praktiken, die in streng hierarchisch organisierten Logen, die für diese Zwecke geschaffen wurden, ausgeübt werden. Der Ursprung dieser Praktiken, die völlig veräußerlicht angewendet werden, ist in der westlichen Strömung zu finden.
Vom Osten her wirkt eine Macht, die seit Peter dem Großen, gestützt auf ein westliches Element, beginnt, eigene geopolitische Ziele zu verfolgen, deren Führungswille autokratisch durchgesetzt wird und die seelisch durch das orthodoxe Christentum getragen wird. Alle vier Kräfte sind durch die Entwicklung fixiert auf das Prinzip „Gruppe“.
An die Stelle des Prinzips „Gruppe“ muss jedoch das Prinzip „Individualität“ treten, wenn die gruppenegoistische Machtpolitik nicht zu noch größeren Katastrophen führen soll. Das aber wird nur möglich, wenn die Anlage zum geistigen Menschen ichhaft entwickelt wird. Daraus entsteht dann ein echtes Menschheitsverständnis, welches erkennt, dass die geokulturellen Differenzierung eine Chance für ein konstruktives Zusammenwirken sind.
In der geokulturellen Konstellation Mitteleuropas, die einmalig in der Welt ist, kommt wie im Bild zum Ausdruck, dass die vier Kräfteströmungen verwandelt und in einen richtigen Ausgleich gebracht werden müssen. Das ist die Aufgabe eines Geisteslebens, welches durch den Goetheanismus entwickelt werden kann. Sie kann ergriffen werden, obwohl dieses Mitteleuropa wirtschaftlich und politisch völlig in Abhängigkeit des Westens geraten ist.
Gelingt dieses Ergreifen, dann wird dies auch einen echten Dialog mit der islamischen Welt ermöglichen. Denn der Islam wird dann in Mitteleuropa eine Geistigkeit finden, die er annehmen kann. Nicht annehmen kann er die westliche Haltung, die den Vatergott leugnen muss, da sie in ihrem Denken keine Beziehung zu diesem finden kann. Der Westen muss den Weg zum Vater durch Christus finden.
Einschub: Der „Impuls von Gondishapur“ so Steiner, musste zu einer Leugnung des Vatergottes führen. Das Geistesleben des Westens, aber auch der katholischen Kirche, sieht er stark von diesem Impuls beeinflusst. Die daraus hervorgehende Leugnung des Vatergottes empfinden Muslime besonders stark. Rudolf Steiner GA 185, S. 176 ff.
Goethe ist diesen Weg gegangen. Deshalb konnte er sich auch so sehr für die Lehren Mohammeds in der Form interessieren, wie sie ihm durch die Schriften des Sufi-Meisters Hafis (ca. 1320-1389) vermittelt wurden, dem er seinen West-Östlichen Diwan widmete.