Erich Fromm - Haben oder Sein


Kapitel: Solidarität – Antagonismus (Ausschnitt)

Die relevantesten Beispiele für Freude ohne das Verlangen zu haben findet man in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein Mann und eine Frau mögen einander aus vielen Gründen anziehen: wegen ihrer Grundhaltung, ihres Geschmacks, ihrer Ideen, ihres Temperamentes, ihrer gesamten Persönlichkeit. Doch nur bei jenen, die haben müssen, was ihnen gefällt, wird diese Zuneigung gewohnheitsmäßig das Verlangen nach sexuellem Besitz erwecken. Diejenigen, in denen die Existenzweise des Seins dominiert, werden die Gesellschaft eines Mannes oder einer Frau genießen und auch erotisch anziehend finden können, ohne sie oder ihn „pflücken“ zu müssen, wie es in Tennysons Gedicht heißt.

Am Haben orientierte Menschen möchten den Menschen, den sie lieben, oder bewundern, haben. Dies kann man im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern und unter Freunden beobachten. Beide Partner wollen den anderen zu alleinigen Verfügung haben und begnügen sich nicht damit, die Nähe des anderen zu genießen; deshalb sind sie auf andere eifersüchtig, die den gleichen Menschen „haben“ wollen. Jeder klammert sich an den andern wie eine Schiffbrüchiger an eine Planke. Beziehungen, die wesentlich besitzorientiert sind, sind bedrückend, belastend, voll von Eifersucht und Konflikten.


Kapitel: Freude – Vergnügen (Ausschnitt)

Das Vergnügen der radikalen Hedonisten, die Befriedigung immer neuer Gelüste und das Vergnügungsgewerbe der heutigen Gesellschaft rufen Nervenkitzel verschiedenen Grades hervor, aber sie erfüllen den Menschen nicht mit Freude. Die Freudlosigkeit seinen Lebens zwingt ihn im Gegenteil, immer wieder nach neuen und noch aufregenderen Vergnügungen zu suchen. […]

Vergnügen und Nervenkitzel hinterlassen ein Gefühl der Traurigkeit, wenn der Höhepunkt überschritten ist. Denn die Erregung wurde ausgekostet, aber das Gefäß ist nicht gewachsen. Die inneren Kräfte haben nicht zugenommen. Man hat versucht, Langeweile unproduktiver Beschäftigungen zu durchbrechen, es ist einem gelungen, für einen Augenblick alle Energien auf ein Ziel zu konzentrieren - außer Vernunft und Liebe. Man wollte eine Übermensch werden, ohne ein Mensch zu sein.

Im Augenblick des Triumphes glaubt man, sein Ziel erreicht zu haben - aber auf dem Triumph folgt tiefe Niedergeschlagenheit, weil man erkennen muss, dass sich im eigenen Innern nichts geändert hat. Der alte Satz: Omne animal post coitum triste (Alle Lebewesen sind nach dem Koitus traurig) drückt das Phänomen in Bezug auf lieblosen Sex aus - ebenfalls ein mit starker Erregung verbundenes Gipfelerlebnis und daher enttäuschend, sobald es vorüber ist. Sexuelle Freude fühlt man nur, wenn physische Intimität gleichzeitig Intimität des Liebens ist.