Grüne Schlange, schöne Lilie

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"Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie ist als letzte Erzählung in dem Novellenzyklus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten enthalten. Dieser erschien erstmals 1795 in der von Friedrich Schiller herausgegeben Zeitschrift Die Horen. Das Märchen zeigt in bildhafter Form, wie sich der Mensch in einer dem Bewusstseinsseelenzeitalter gemäßen Form in ein bewusstes, freies Verhältnis zur übersinnlichen Welt setzen kann.
 
Rudolf Steiner nannte das Märchen auch Goethes geheime Offenbarung. Es bildete den Ausgangspunkt zur Entwicklung der Anthroposophie (s.u.); ausführliche Betrachtungen Steiners dazu finden sich etwa in GA 053, S. 329ff und GA 057, S. 23ff. Auch die Mysteriendramen Rudolf Steiners sind auf Grundlage des Märchens entstanden (Lit.: GA 014)."

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Rudolf Steiner ist den Weg, den Goethe durch sein Märchen bezeichnet hat, konsequent weiter gegangen und hat auf der Grundlage des Märchens nicht nur seine Mysteriendramen geschrieben, sondern die ganze Anthroposophie ist, nach Steiners eigenen Worten, aus der "Urzelle" jenes Vortrages über Goethes geheime Offenbarung hervorgegangen, den er am 29. September 1900 in der Theosophischen Bibliothek in Berlin gehalten hatte.
Grundlage dieses Vortrags war der gleichnamige Aufsatz, den Steiner am 26. August 1899 anläßlich Goethes 150. Geburtstages über dessen Märchen veröffentlicht hatte. In "Mein Lebensgang" schreibt Steiner: 

"Der Wille, das Esoterische, das in mir lebte, zur öffentlichen Darstellung zu bringen, drängte mich dazu, zum 28. August 1899, als zu Goethes hundertfünfzigstem Geburtstag, im «Magazin» einen Aufsatz über Goethes Märchen von der «grünen Schlange und der schönen Lilie» unter dem Titel «Goethes geheime Offenbarung» zu schreiben. — Dieser Aufsatz ist ja allerdings noch wenig esoterisch. Aber mehr, als ich gab, konnte ich meinem Publikum nicht zumuten. - In meiner Seele lebte der Inhalt des Märchens als ein durchaus esoterischer. Und aus einer esoterischen Stimmung sind die Ausführungen geschrieben.

Seit den achtziger Jahren beschäftigten mich Imaginationen, die sich bei mir an dieses Märchen geknüpft haben. Goethes Weg von der Betrachtung der äußeren Natur zum Innern der menschlichen Seele, wie er ihn sich nicht in Begriffen, sondern in Bildern vor den Geist stellte, sah ich in dem Märchen dargestellt. Begriffe schienen Goethe viel zu arm, zu tot, um das Leben und Wirken der Seelenkräfte darstellen zu können.

Nun war ihm in Schillers «Briefen über ästhetische Erziehung» ein Versuch entgegengetreten, dieses Leben und Wirken in Begriffe zu fassen. Schiller versuchte zu zeigen, wie das Leben des Menschen durch seine Leiblichkeit der Naturnotwendigkeit und durch seine Vernunft der Geistnotwendigkeit unterliege. Und er meint, zwischen beiden müsse das Seelische ein inneres Gleichgewicht herstellen. In diesem Gleichgewicht lebe dann der Mensch in Freiheit ein wirklich menschenwürdiges Dasein.

Das ist geistvoll; aber für das wirkliche Seelenleben viel zu einfach. Dieses läßt seine Kräfte, die in den Tiefen wurzeln, im Bewußtsein aufleuchten; aber im Aufleuchten, nachdem sie andere ebenso flüchtige beeinflußt haben, wieder verschwinden. Das sind Vorgänge, die im Entstehen schon vergehen; abstrakte Begriffe aber sind nur an mehr oder weniger lang Bleibendes zu knüpfen.

Das alles wußte Goethe empfindend; er setzte sein Bildwissen im Märchen dem Schiller'schen Begriffswissen gegenüber. Man ist mit einem Erleben dieser Goethe'schen Schöpfung im Vorhof der Esoterik. Es war dies die Zeit, in der ich durch Gräfin und Graf Brockdorff aufgefordert wurde, an einer ihrer allwöchentlichen Veranstaltungen einen Vortrag zu halten. Bei diesen Veranstaltungen kamen Besucher aus allen Kreisen zusammen. Die Vorträge, die gehalten wurden, gehörten allen Gebieten des Lebens und der Erkenntnis an. Ich wußte von alledem nichts, bis ich zu einem Vortrage eingeladen wurde, kannte auch die Brockdorffs nicht, sondern hörte von ihnen zum ersten Male. Als Thema schlug man mir eine Ausführung über Nietzsche vor.

Diesen Vortrag hielt ich. Nun bemerkte ich, daß innerhalb der Zuhörerschaft Persönlichkeiten mit großem Interesse für die Geistwelt waren. Ich schlug daher, als man mich aufforderte, einen zweiten Vortrag zu halten, das Thema vor: «Goethes geheime Offenbarung». Und in diesem Vortrag wurde ich in Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen durchleuchten zu lassen." (Lit.: GA 028, S. 292f)