Endlich wäre Kunst das Problem

In "Grundlinien einer Erkenntnistheorie der goetheschen Weltanschauung Mit besonderer Rücksicht auf Schiller" von Rudolf Steiner aus dem Jahr 1886 steht in der Einleitung:

So wurde mein Blick auf den Weg von der Sinnesbeobachtung zu dem Geistigen hingelenkt, das mir im inneren erkennenden Erleben feststand. Ich suchte hinter den sinnenfälligen Erscheinungen nicht ungeistige Atomwelten, sondern das Geistige, das sich scheinbar im Innern des Menschen offenbart, das aber in Wirklichkeit den Sinnendingen und Sinnesvorgängen selbst angehört.

Es entsteht durch das Verhalten des erkennenden Menschen der Schein, als ob die Gedanken der Dinge im Menschen seien, während sie in Wirklichkeit in den Dingen walten. Der Mensch hat nötig, sie in einem Scheinerleben von den Dingen abzusondern; im wahren Erkenntniserleben gibt er sie den Dingen wieder zurück.

[...]

Ich erkannte bald, dass jene Errungenschaften, die Goethe von der heutigen Wissenschaft zugestanden werden, das Unwesentliche sind, während das Bedeutsame gerade übersehen wird. Jene Einzelentdeckungen wären wirklich auch ohne Goethes Forschen gemacht worden; seiner großartigen Naturauffassung aber wird die Wissenschaft solange entbehren, als sie sie nicht direkt von ihm selbst schöpft.

Damit war die Richtung gegeben, die die Einleitungen zu meiner Ausgabe zu nehmen haben. Sie müssen zeigen, dass jede einzelne von Goethe ausgesprochene Ansicht aus der Totalität seines Genius abzuleiten ist. Die Prinzipien, nach denen dies zu geschehen hat, sind der Gegenstand des vorliegenden Schriftchens.

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Die letzen Worte: Überwindung der Sinnlichkeit durch den Geist ist das Ziel von Kunst und Wissenschaft. Diese überwindet die Sinnlichkeit, indem sie sie ganz in Geist auflöst; jene, indem sie ihr den Geist einpflanzt. Die Wissenschaft blickt durch die Sinnlichkeit auf die Idee, die Kunst erblickt die Idee in der Sinnlichkeit. Ein diese Wahrheiten in umfassender Weise ausdrückender Satz Goethes mag unsere Betrachtungen abschließen: «Ich denke, Wissenschaft könnte man die Kenntnis des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat verwendet; Wissenschaft wäre Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus, deshalb man sie auch  praktische Wissenschaft nennen könnte. Und so wäre denn endlich Wissenschaft das Theorem, Kunst das Problem.

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