Am Abend der Feier war in ihrer kleinen Wohnung keine Bewegung mehr möglich gewesen, so dichtgedrängt hatten die Gäste in allen Zimmern gestanden. Aber die betrunkenen Menschen waren brav geblieben. Nichts war zerstört worden. Sogar die Geranien auf der Fensterbank hatten es überlebt. Nur musste am nächsten Morgen viel Müll weggeräumt werden. Vor allem leere Bierflaschen, die nicht nur im Badschrank aufgetaucht waren, auch im Bücherregal, unter ihrem Bett, auf den Schränkchen im Flur und sogar in den Küchenschränken. Das meiste waren Pfandflaschen gewesen, die sie einen Tag später weggebracht hatte.
Aber elf leere Flaschen Wein standen heute noch in der Küche und blickten sie täglich scharf an. Die Flaschen versammelten sie inzwischen neben dem Regal und vor dem Fenster. Jeden Tag wanderten sie ein wenig. Aber immer waren sie im Weg. Immer wo anders. Bei manchen Schritten stolperte sie darüber und stellte sie erneut auf. An einen neuen Platz. Manchmal musste sie sich weit nach vorne beugen, wenn sie nach Brot und Marmelade griff, um über leere Flaschen zu reichen. Wenn sie am Tisch saß, konnte sie den Stuhl nicht nach hinten schieben, sonst klirrte es und die Flaschen rollten lachend über den Boden. Beim Öffnen der Fenster musste sie besonders vorsichtig sein. Die Flaschen waren sehr egoistische Mitbewohner.
Sie beschloss, dass es keinen guten Eindruck machen würde, wenn die Küche voll mit leeren Flaschen stand. Es war an der Zeit, wenigstens einen Teil davon wegzubringen. Sie packte eine Tasche voll und verließ die Wohnung. Der Glascontainer war nur eine Straße weiter, neben dem kleinen Supermarkt an der Ecke. Sie würde in spätestens fünf Minuten zurück sein.
Auf halben Weg fragte sie sich, ob es richtig war, was sie da tat. Sie hatte den Kerl vor über zwei Wochen auf einer Party kennengelernt und mit nach Hause genommen. In weniger als zehn Minuten würde er bei ihr an der Tür klingeln, wahrscheinlich Erdbeeren in der Hand halten und mit ihr schlafen wollen.
Sie hatte ihn nicht einmal geküsst, als sie ihn kennengelernt hatte. Kurz darauf waren sie Arm in Arm auf dem Weg zu ihr gewesen. Die anderen Typen mussten in der Regel erst beweisen, dass sie zu Berührungen fähig waren, bevor sie sie mit nach Hause nahm. War sie sich bei ihm sicher gewesen, dass es gut werden würde? Nein, dachte sie. Darauf war es nicht angekommen. Es war eine Lust und Laune Aktion mit einer Prise Verzweiflung gewesen.
Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt einen Mann mit nach Hause zu nehmen; sie war mit ihren Freunden unterwegs. Dann plötzlich, ganz spontan, im wildesten Moment des Abends hatte sie beschlossen, ihn sich zu angeln. Die Tanzfläche war schon fast leer gewesen und nur noch bekannte Gesichter und taube Körper hatten um sie herum getanzt. Sie hatte nicht gezögert. Er auch nicht.
Laut redend und albern waren sie gewesen. Schon hatte sie ihre Hand unter seiner Jacke um seine Hüfte. Er hatte es gemocht, denn als sie einen Augenblick allein gehen wollte, als sie ein wenig Abstand und Eigenständigkeit suchte, da hatte er ihre Hand wieder unter seine offene Jacke befohlen. Das hatte ihr gefallen.
Auf dem Weg nach Hause hatten sie geschwankt, von Hauswand zu Hauswand und von Thema zu Thema. Es war zu keinem echten Gespräch gekommen. Nur Bruchstücke waren entstanden, deren großes Ganzes unaussprechlich bleiben musste, weil selbst im betäubten Kopf die Scham vor zu viel Nähe bestanden hatte.
Er hatte sie gefragt, ob sie Vegetarierin wäre. Veganerin, hatte sie geantwortet, und hinzugefügt, dass man darüber jetzt nicht reden dürfte. Das wäre ein zu ernstes Thema. Er war nicht weiter darauf eingegangen. Dann hatte sie seinen Namen erfahren, und gestaunt, dass er neun Jahre älter war als sie. Obwohl er jünger aussah, hatte sie sich für einen kurzen Moment betrogen gefühlt, einen so viel älteren Mann mit nach Hause zu nehmen? Hatte er einen Plan? Würde er sie ausnutzen und ihr wehtun? Wo war er überhaupt hergekommen?
Er war nett gewesen, hatte wild getanzt und zeigte sich nicht sonderlich irritiert von ihren verrückten Freuden, die um sie gebuhlt hatten. Auch dem Ehrgeiz schwacher Anmachen anderer Mädchen war er geschickt ausgewichen. Scheinbar hatte er sich nicht einmal dafür interessiert.
Im dunklen Partykeller hatte er gut ausgesehen und dann plötzlich neben ihr gestanden. Er hatte ihre Hand berührt, sie zugegriffen, als Zeichen, dass sie es ernst meinte. Er war ihr wie eine blindes Huhn gefolgt, bereit als Suppenhuhn zu enden.
In ihrem Zimmer hatten sie sich ausgezogen und waren ins Bett gestürzt. Im nebligen Rausch hatten sie sich verschlangen, gewälzte und sich gegenseitig festgehalten, um nicht aus dem Bett zu fallen. Nach viel enger Bewegung waren sie erschöpft eingeschlafen. Am nächsten Morgen hatte er sich, ohne Frühstück zu machen, aus der Wohnung stehlen wollen, obwohl es das Mindeste an Respekt gewesen wäre, wenigstens einen Tee gemeinsam zu trinken. Er schien völlig durch den Wind zu sein.
Er hatte noch nach Alkohol gestunken und seine Jacke nicht gefunden. Orientierungslos war er durch die Wohnung gestolpert. Sie hatte im Bett gesessen und ihm zugesehen. Immer wieder hatte er ihr einen ziellosen Kuss auf die Lippen gedrückt und gestammelt, wie wichtig die Jacke und deren Inhalt wäre. Diese Küsse waren unangenehm gewesen, aber sie hatte es geschehen lassen. Sein Geld, sein Handy und seine Hausschlüssel wären in den Taschen, so viel Wichtiges könnte er nicht zurücklassen, hatte er gemurmelt. Noch genauso müde wie er, hatte sie gesagt, dass es doch kein Thema wäre, er noch einmal kommen könne, um sie zu holen. Aber er wollte schnell gehen, zudem schien er im Augenblick nicht daran gedacht zu haben, sie noch einmal sehen zu wollen.
Hinter ihrer Zimmertüre hatte sie schließlich seine Jacke gefunden. Er hatte ihr nochmal seinen Namen gesagt, den sie nicht mehr erinnerte, und sie hatte versprochen sich zu melden. Dann war er die Treppe hinunter gepoltert.
Nachdem er das Haus verlassen hatte, war sie zum Fenster gegangen und war kurz versucht gewesen, ihm hinterher zu sehen. Doch sie hatte gezögert. Sie hatte die Augen geschlossen und die Müdigkeit gefühlt. Ihr Herzschlag schlug laut und aufgeregt.
Er pochte bis zum Hals. Einige Atemzüge stand sie da und hörte, wie ihr Blut durch die Ohren rauschte, wie das Echo einer lauten Party. Dann ging sie weiter - war wieder in ihr Bett gegangen.
Die Bettdecken waren noch ein wenig warm gewesen, hatten noch die Wärme ihrer Körper gehabt und das Kopfkissen formte noch der Abdruck seines Kopfes. Sie hatte es zur Seite geschoben, sich die Bettdecke zwischen die Beine gelegt und bis zum späten Nachmittag geschlafen.
Einige Tage später hatte sie ein Mail von ihm bekommen. Er nannte sie Süße und wollte sie nüchtern wiedersehen. Es erschien ihr wie ein dummer Jungen-Streich. Die erste Meldung war also plump und uncharmant. Solche Typen, die nach Parties mit fremden Frauen ins Bett gehen sind ja auch keine Menschen, mit denen man sich unterhalten will. Warum ging sie dann gerade zum Altglascontainer?
Er hatte ihr eine zweite nette Mail geschrieben und sie höflich angesprochen. Und da war seine Absicht klar und deutlich geworden: Er wollte sie wiedersehen. Erst hatte sie das erstaunt. Warum wollte er sie wiedersehen? Wollte er nochmal mit mir ins Bett? Daran war überhaupt nicht zu denken. Nüchtern lief so was nicht. Dafür mochte sie sich zu sehr. Es war schon wild genug, dass sie im betrunken Zustand so etwas getan hatte. Aber nüchtern? Sie kannte ihn doch überhaupt nicht. Allerdings hatte es auch seinen Reiz. Wie war er wohl wirklich? In der Nacht war er jedenfalls kaum zu viel Gefühlen in der Lage gewesen und seine Bewegungen waren unscharf und grob gewesen und hatten ihn nicht zu dem tollen Fang gemacht, den sie sich gewünschte hatte. Wie mochte er wohl nüchtern sein? Vielleicht würde er sie nicht begrüßen, sondern ihr direkt um den Hals fallen, sie küssen, mit ihr ins Bett sinken, und sie sich von Zeus geliebt fühlen – bis sie erschöpft neben ihm liegen würde und nur noch kichern könnte. Anschließend würden sie stundenlang reden und lachen.
Sie hatte die Mail gelesen, sich zurückgelehnt und nach einer Reaktion gesucht. Aber es war still geblieben. Das Feuer hatte nicht einmal leise geknistert.
Zwei Tage später er hatte wieder geschrieben. Diesmal ausführlicher. In dem Brief hatte er die Geschichte eines romantischen Abenteurers beschrieben, der verloren in der Dunkelheit Schutz bei toten Mädchenherzen sucht. Leider hatte sich der Abenteurer mit ihr die Falsche ausgesucht und ein lebendiges Mädchen gefunden. Und das musste er nun ausbaden, die Konsequenzen tragen, sich erneut mit ihr treffen, sich ihr wahrscheinlich erklären, oder ihr seine Liebe gestehen. Sie hatte nicht nachgegeben, ihm freundlich geantwortet, ihm Mut zugesprochen, weiterzuschreiben und nicht weiter an ihn gedacht. Doch er hatte nicht aufgegeben und sich für den nächsten Tag zum Besuch angekündigt. Mit einem Bein im Leben und den Händen im Himmel hatte sie die Augen geschlossen und ihm zugesagt.
Jetzt war sie auf dem Weg zum Altglascontainer und wusste nicht, ob sie für ihn ein totes oder lebendiges Mädchenherz sein würde.