Die intensivste Woche meines Lebens

Der Gemeinschafts-Intensiv-Prozess 1 am Schloss Tempelhof ist eine Schule des Fühlens. Er wirkt gegen die Flucht vor Gefühlen durch Verwendung der Sprache. Ob man also durch Text überhaupt eine Ahnung davon bekommt, was dort abgeht, ist mehr als fraglich.

Auf dem Fragebogen, den ich für die Anmeldung ausfüllen sollte, war ich gefragt, was ich von der Woche Gemeinschafts-Intensiv-Prozess erwarte. Ich schrieb: Erfahrung! Ich wollte mehr über mich, mehr über den Menschen im Allgemeinen und mehr über das Miteinander verschiedener Menschen herausfinden. Das war abstrakt. Aber es ist mir in der Tat gelungen. Ich habe, metaphorisch gesprochen, im Nebel des Lebens einen Schritt Richtung Licht gemacht.

Schloss Tempelhof

Schloss Tempelhof ist ein kleines Dorf zwischen Crailsheim und Dinkelsbühl mit vielleicht zwanzig Gebäuden und ungefähr 120 Bewohnern, darunter mehr als 40 Kinder. Es gibt dort eine kleine Freie Schule, einige Wohnhäuser mit Wohneinheiten für WGs, Familien, Paare und Alleinstehende. Es ist idyllisch. Eine Oase.
Am Rand des Dorfs steht ein Bauernhof mit Stallungen für Ziegen, die leckere Milch für Käse geben. Es gibt ein Gästehaus, in dem die Zimmer Namen haben. Neben einer großen Wiese leben einige mutige Bewohner in modernen Zirkuswägen.
Ich schlief während der Seminarwoche in einem Wohnmobil. Die erste Nacht fror ich wie ein nasser Hund im Krieg. Erst als ich eine Isomatte unter den Matrazenbezug legte, und auf die Schafsdecke eine Wolldecke packte, schlief ich der himmlischen Ruhe von Tempelhof angemessen gut.
Die Luft in Tempelhof ist frisch. Weit und breit gibt es keine Schornsteine. Auch der Elektrosmog ist merklich geringer als in der Großstadt Köln, wo ich manchmal das Gefühl habe, unter Strom zu stehen.
In Tempelhof stehen Körper und Geist nicht unter Strom, sondern atmen mit den jahreszeitlichen Kräften die Gelassenheit der Natur.
Im Zentrum der Siedlung steht die Großküche. Dort wird für die 120 Bewohner und ihre Gäste gekocht. Das meiste Gemüse kommt übrigens aus eigener Landwirtschaft, oder von einem Demeter-Landwirt aus der Region. Folglich gab es Mitte November viel Kürbis, Kartoffeln und Sellerie. In das Sellerieschnitzel habe ich mich verliebt. Am südöstlichen Rand der Siedlung steht das Seminarhaus, wo der Gemeinschafts-Intensiv-Prozess 1 stattfand.

Das Seminarhaus

Ebenerdig hat das Seminarhaus eine Metallwerkstatt und eine Schreinerwerkstatt. Im oberen Geschoss ist eine kleine Cafeteria, wo wir Seminarteilnehmer verköstigt wurden und der große Raum. In diesem längliche Raum liegt ein großer, ovaler Teppich. Er war während der ganzen Woche die Hauptbühne des Seminargeschehens.
Durch eine große Fensterfront blickten wir auf hügelige Wiesen am Waldrand. Meist versteckte sich die Sonne hinter dichten Wolkenschichten, aber wenn sie schien, war der Raum lichtdurchflutet, hell, wie ein Mittag in Spanien. Der Seminarraum ist ein Wohlfühlraum mit spürbar herzlicher Energie.

Die Teilnehmer

Am Montag der Seminarwoche kamen 16 Personen zusammen. Einige Paare waren dabei. Zwei kannten sich von früher. Die meisten sahen sich zum ersten Mal. Besonders rührend waren für mich ein 76 jähriger Vater mit seiner 50 jährigen Tochter. Beide waren sehr glücklich über ihre tiefe, offen gelebte Verbundenheit.
Ich war mit meinen 33 Jahren der jüngste Teilnehmer. Die meisten waren wohl zwischen 40 und 60, wie auch unsere Coachs, ein Mann und eine Frau, beide um die 50. Zu keinem Zeitpunkt fühlte ich mich zu jung oder ausgeschlossen. Mir begegneten alle auf Augenhöhe. Ein Bewohner des Dorfes, den ich in der Gemeinschaftsdusche traf, erklärte mir, dass dieses Mal der Altersdurchschnitt besonders hoch sei. Meine Verwunderung darüber, in einer so alten Gruppe gelandet zu sein, trug ich zu einer jungen Bewohnerin, die ich frisch geduscht vor der Türe traf.
Ich fragte sie, ob in jüngeren Gruppen die Themen anders wären, ob zum Beispiel neben den Familienthemen der Job eine größere Rolle spiele. Sie sah mich verdutzt an und schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie mit fester Stimme, der Job spielt nie eine Rolle.

Die Struktur des Seminars

Grundsätzlich war die Woche in drei aufeinander aufbauende Teile gegliedert. Der erste Teil war die Ich-Phase. Es wäre wohl von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich, wie lange er dauern würde. Bei uns waren es volle drei Tage. Wir brauchten anscheinend überdurchschnittlich lang, um uns selbst besser kennenzulernen.
Der zweite Teil war die Du-Phase, jede Person in Beziehung zu einer anderen. Sie dauerte etwas mehr als einen Tag.
In dieser Phase nahm ich zum ersten Mal bewusst wahr, wie meine Aufmerksamkeit mein Empfinden steuern kann, und wie bedeutungsvoll die Kontrolle über meine Körperenergie ist. Dazu später mehr.
An Ende der Du-Phase kamen weitere 18 Personen hinzu. Gemeinsam mit uns 16, die wir bereits Beziehungen aufgebaut hatten, durchlebten wir dann den dritten und letzten Teil, den sogenannten Wir-Prozess. Er dauerte von Freitag Abend bis Sonntag Mittag.

Der Fokus des Seminars

Während der ganzen Woche standen erstmals in meinem Leben über einen längeren Zeitraum hinweg nicht meine Gedanken, nicht mein Wissen oder planvolles Handeln, sondern allein meine Gefühle im Zentrum meiner Aufmerksamkeit. Sie zeigten sich als körperliche Symptome wie erhöhter Puls, schwitzige oder trocken-heiße Hände, An- oder Entspannung, Gänsehaut, Tränen, Unruhe und Gelassenheit. Mich erstaunte es immer wieder, wie sensibel ich sein kann, wie sehr ich meine Reaktion auf die Stimmung anderer Menschen erleben und deuten kann, wenn ich bewusst darauf achte, vor allem wenn ich weniger konzentriert denke, sondern meinen Gefühlen zuhöre und aus ihnen Gedanken ableite.
Das Fühlen wurde jeden Tag mehr das Herz meiner Wahrnehmung. Das Denken reihte sich demütig ein in die Riege der Sinne. Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten und denken wurden gleichberechtigt - was mir zuerst so erschien, als würde ich weniger denken, aber nur eine andere Form des Denkens ist.

Der Kreis

Morgens, nach dem Frühstück, trafen wir uns im Kreis, einem Stuhlkreis für 16 Teilnehmer und zwei Coachs. Im Zentrum stand ein herbstlicher Schnittblumenstrauß und eine Kerze. Beides stand auf einem silbernem Tablett. In den sieben Tagen Seminar sah ich dieses lebhafte Stillleben stundenlang vor mir. Seine große, rotbraune Trockenblume mit den feinen Blüten verbreitete die Gelassenheit eine Bärs kurz vor dem Winterschlaf. Das Stillleben war die Stelle, an die wir unsere Worte richteten, wenn wir bewegt waren zu sprechen.
Der Kreis ist das Schlüsselelement. Was dort geschieht, ist für Außenstehende und Unerfahrene wie mich ein wahres Mysterium, ein okkultes Geheimnis, das schwerlich erklärt dafür sehr intensiv erfahren werden kann.
Dass es in diesem Kreis tiefschürfende Erlebnisse gibt, ist äußerlich an Tränen, Lachen und gelegentlichen Umarmungen erkennbar. Das Wesentliche findet jedoch, ich nenn es so, im Energiekörper des Kreises und im Innern der Teilnehmer selbst statt.
Ich erinnere mich gut: Sitzend, beide Füße fest am Boden, die Hände im Schoß gefaltet, fing nach den ersten zwei Stunden mein Bauch an zu grummeln. Nach drei Stunden waren meine Hände, die sonst eher kalt sind, heißglühend. Obwohl mein Kopf kühl war, schwitzte ich unter den Armen, aber ich wollte dennoch meinen Pullover nicht ausziehen. So begann meine Gefühlsregion, deren Zentrum bei mir wohl im Bauch sitzt, sich zu regen. Über die Tage lernte ich diese Regungen besser kennen.
Einige methodische Elemente, die in dem Kreis geschahen, waren neu und befremdlich für mich, aber gleichzeitig so sinnvoll und wohltuend, dass ich mich frage, wieso sie nicht überall angewandt werden.
Eines davon ist die Tatsache, dass es keinen Tisch gibt. Wenn Menschen an einem Tisch sitzen, bleibt die untere Körperhälfte versteckt. Ohne Tisch ist alles sichtbar und frei. Die Hände liegen im Schoß oder auf den Oberschenkeln. Niemand kritzelt, blättert oder stützt sich motivationslos auf. Die zwischenmenschliche Achtsamkeit steigt allein schon, weil es keinen Tisch gibt.
Anfang und Ende jeder Runde waren deutlich gekennzeichnet, ja sogar spürbar, klanglich wahrnehmbar. Zu Beginn jeder Runde erklang in den Händen eines Coachs eine Zimbel. Sie besteht aus zwei Metallscheiben an einem Lederband. Diese freihängend aneinandergestoßen lassen einen hohen Ton erklingen. Zimbeln werden auch in der Klangmassage eingesetzt und im Feng-Shui zur energetischen Raumreinigung verwendet. Ihre hohen Frequenzen sollen Atmosphäre läutern und reinigen. Wenn sie klangen, schwiegen wir gemeinsam, jeder für sich, einige mit geschlossenen Augen, andere aus dem Fenster blickend, bis der Ton leise verklungen war.

Kreisgespräche

An mehreren Morgen kamen wir im Kreis zusammen, begannen mit Stille und ließen den Kreis auf uns wirken. Wer sich bewegt fühlte, stand auf, ging zum Stillleben, nahm dort einen hölzernen Redestab, ging wieder zu seinem Platz zurück und sprach über das, was ihn bewegte. Träume, Erlebnisse, Erinnerungen, Aktuelles – Wichtiges! Es entstanden keine Dialoge. Alles, was gesprochen wurde, nahm der Kreis als Gesamtheit auf. Jeder und Keiner war angesprochen. Hin und wieder bewegte eine Äußerung eine andere Person zu einer Aussage. Oft kam diese einige Redebeiträge später.
Zeitplan gab es nur einen groben. Im Morgenkreis saßen wir solange zusammen, bis wir uns alle ausgesprochen wohl fühlten. Zu Beginn wusste ich nicht, wie ich bequem sitzen sollte. Beide Füße fest auf dem Boden, oder doch übereinandergeschlagen? Leicht unter die Sitzfläche, oder zusammengefaltet ein Bein im Schneidersitz? Oder doch lieber auf einem Sitzkissen vor dem Stuhl?
In den vielen Stunden im Kreis kristallisierte sich eine Haltung heraus, in der ich mich entspannen konnte. Ich saß aufrecht da und rieb leicht meine Fingerspitzen aneinander, oder legte meine Hände flach auf die Oberschenkel, so, als ob es mir wichtig wäre, den empfindsamen Tastsinn, mit einzubeziehen.
Sobald es im ersten Morgenkreis eine längere Zeit niemanden mehr bewegt hatte zu sprechen, für den Moment alles gesagt war, fingen wir mit vertiefenden Übungen an.

Dyaden

Eine der ersten Übungen, an die ich mich erinnere, war die erste Dyade. Es saßen sich alle Teilnehmer in zwei Reihen gegenüber, mit Wohlfühlabstand nach rechts und links. Dann bekam eine Seite den Anfang eines Satzes genannt, den sie zwei Minuten ununterbrochen ergänzen durfte. Der erste Satz war: „Ich fühle mich gerade …“ Einer sprach, sein Gegenüber hörte aufmerksam zu, zeigte soweit wie möglich keine Reaktion. Der Gegenüber war Projektionsfläche für den Sprecher.
Der Sprecher war aufgefordert, möglichst flüssig zu reden. Langes Nachdenken sollte in dieser Übung nicht stattfinden. Die Wörter sollten, so wie sie kamen, direkt aus dem Bauch zwischen die Augen des Gegenüber gesprochen werden. Sprecher und Zuhörer wechselten wir bis zu drei Mal ab. Immer mit dem selben Thema.
Als ich an der Reihe war, plauderte ich gleich fröhlich los, meinen Blick konsequent in die Augen meines Gegenübers gerichtet, ohne ihn richtig anzusehen. Meine Aufmerksamkeit ging eher zu mir. Die Hände auf den Oberschenkeln, den Rücken entspannt an der Lehne des Stuhls. Vom ersten kurzen, mir geht es gut, kam ich schnell weg, wurde aber nur langsam konkreter, bezog mich zuerst allgemein auf den Tag, schweifte immer wieder ab – und schon waren die ersten zwei Minuten um. Einiges, was mein Gegenüber sagte, war interessant. Mir kam der Gedanke, das auch zu sagen. Aber als ich wieder dran war, leerte sich mein Kopf mit einem Mal. Worte und Sätze, die folgten, kamen direkt aus meinem Bauch. Am Ende der dritten Runde war ich mit meiner Aufmerksamkeit bei mir auf dem Stuhl voll und ganz in der Übung angekommen.
Der Zustand, in dem ich mich fand, erschien mir als eine Art meditatives Gewahrwerden meiner Selbst. Mein Körper war ruhig, und gleichzeitig hellwach, hitzig und lebendig. Das Feuer, das in meinem Bauch gewöhnlich nur leise brennt, loderte und heizte mich bis in die Finger-, Fuß- und Haarspitzen. Ich war ein Ofen, bereit, anderen Wärme zu spenden. Gleichzeitig wusste ich, dass ich dieses meditative Gewahrsein gedanklich geschaffen hatte, denn ich hatte ja sechs Minuten über mein Empfinden im Hier und Jetzt gesprochen.
Diese Zustand war neu. Zum ersten Mal hatte ich sechs Minuten allein in mich geschaut und über meine aktuellen, momentanen Gefühle gesprochen - und schon fühlte sich mein Körper an wie die Sonne? Ich erkannte plötzlich, wie viele Gedankenschichten mich sonst davon abhielten, meine Lebensenergie zu nutzen. Rollenverpflichtungen, Erwartungshaltungen, Jobrollen, Weltbildklammerungen etc. Ich bemerkte, dass das Leben erst dort lebenswert wurde, wo Gedanken und Gefühle sich wie von Zauberhand verschmolzen.
Die letzten Worte in Runde drei, ich erinnere mich an kein einziges mehr, kamen aus diesem Einklang mit meinem Ich-Gefühl. In ähnlichem Modus hielten wir im Laufe der Tage immer wieder Dyaden ab. Die nächsten Satzanfänge waren „Ich bin hier weil …“ und „Was du noch über mich wissen solltest …“ Immer mit dem Ziel, uns selbst bewusster zu werden.
Ein weiteres Thema, an das ich mich noch gut erinnere, war das Alleinsein. Bei dieser Variante fragte der eine den anderen, Wo in deinem Leben bist du allein? Nach zwei Minuten bedankte sich der Schweiger, und wurde selbst zum Sprecher.

Bewegen und Wahrnehmen

Zwischen Dyaden und Kreisgesprächen gab es Lockerungsübungen. Wir schlüpften in verschiedene Rollen, den arroganten Kaufmann, den armen Bettler, den zornigen Wüterich und stampften, stolzierten oder krochen durch den Raum.
Bei einigen dieser freien Bewegungsübungen ging es darum, sich im Energiefluss des Raumes mit einem oder mehreren Personen zusammenzufinden, um uns mit ihr für eine Übung zusammenzutun. Anschließend schüttelten wir uns und machten weiter.

Biographieforschung

Am Whiteboard stand die zentrale Frage: Wo in meinem Leben ist der rote Faden? Diese Frage sollte uns zu unserer Schattenseite bringen. Von der Kindheit, über die Jugend, das Erwachsenwerden, Familie und das Berufsleben bis gegebenenfalls ins hohe Alter sollten wir den einen durchgängigen Faden finden. Mit folgenden Fragen sollten wir ihm auf die Spur kommen:
Womit habe ich Aufmerksamkeit bekommen?
Womit habe ich mich versteckt?
Was hat mich gerettet?
Wir bekamen 30 Minuten Zeit, unsere Antworten auf Papier zu schreiben. Anschließend versammelten wir uns in gemütlichen Dreiergrüppchen und starteten Gespräche. Jeder sollte innerhalb von 15 Minuten Aussprache seinem roten Faden einen Rollennamen, einen knappen Titel geben können. Bei mir ging es irgendwie ums Reden.
Doch einen Titel zu finden, war gar nicht so einfach. Die beiden anderen, die mir zuhörten, sollten aufpassen, während ich redete. Sie wachten darüber, ob ich meiner Wahrheit näher kam, oder nur eine Geschichte erzählte. Sie wachten also über die Authentizität meiner Wort. Der Modus, in dem ich sprach, um meiner Rolle auf die Schliche zu kommen, ähnelte dem in den Dyaden. Mehr nach innen gewandt, versuchte ich das Gefühl meiner Rolle zu ergründen.
Ich sagte Worte, nannte Begriffe und überprüfte, während ich sie sprach, wie ich mich damit fühlte. So näherte ich mich einem Titel, der sich ziemlich passend anfühlte. Ich war wohl der „gehetzte Redner“. Als jeder seinen Titel hatte, kamen wir wieder im Kreis zusammen. Der Kreis wurde jetzt zur Schaubühne für die eben gefundenen Rollen. Wir waren eingeladen, mit unserer Rolle in den Kreis zu gehen. Dort würden wir direkt erfahren, was sich darin verbarg.
Mir klopfte das Herz bis zu Brust. In meinem Bauch wanden sich fünf Schlangen. Ich war nervös wie vor der ersten Fahrstunde. Aber ich wollte etwas über mich erfahren.
Ich stieg in die Arena.
Als der „gehetzte Redner“ öffnete ich den Mund und begann zu sprechen. Ich versuchte, Kontakt zu den Umsitzenden aufzunehmen. Sie sollten offen, frei und ehrlich reagieren, verlangte ich. Aber es war schrecklich. Keiner konnte mich verstehen. Keiner wollte mir zuhören. Es war wie in einem Alptraum.
Du bist langweilig, sagten einige. Andere erhoben abwehrend die Hände. Geh weg, lass mich in Ruhe, sagte eine, als ich auf sie zutrat. Es war mein verzweifelter Kampf um Aufmerksamkeit. Bereits nach wenigen Sekunden konnte ich keinen klaren Satz mehr sagen, taumelte ziellos von links nach recht, immer bemüht, jede Äußerung aufzufangen, um auf sie zu reagieren. Ich torkelte und in mir dreht sich alles. Das Spiel dauerte vielleicht zwei Minuten. Dann wurde ich gebeten, anzuhalten.
Was willst du jetzt tun? fragte mich der Coach. Ich wand mich durch halbe Antworten, stotterte herum. Meine Stimme klang höher als sonst, wie aus einem Ballon gepresst. Komm zur Ruhe, wurde ich aufgefordert. Schau in dich, und sage, was du jetzt brauchst.
Ich wollte nur zurück auf meinen Stuhl. Ich wollte auf meinen Platz im Stuhlkreis, weder auffallen, noch beachtet werden, ich wollte einfach sein dürfen, ohne zu müssen. Es war so anstrengend gewesen, als gehetzter Reder, um Aufmerksamkeit zu kämpfen.
Der Coach nickte. Ich durfte zurück.
In den folgenden Minuten saß ich schweigend auf meinem Stuhl. Meine Gedanken waren eine Salzwüste, die nach Wasser dürstet. Ein trockener Wind wehte vorbei, aber nichts rauschte. Es war still. Wie in Watte gepackt saß ich da. Meine Beine nahm ich hoch in den Schneidersitz, ich senkte den Kopf und starrte vor mich auf den Teppich. Die Schlangen im Bauch waren noch da, aber wanderten auch leise durch alle meine Adern und Sehnen. Ich spürte mich, und gleichzeitig war mir klar, dass ich mich nicht spürte. Irgendetwas schien zu fehlen. Mein Kopf war ein Wirbel, während mein Körper ums Überleben kämpfte.
Aufnahmefähig war ich kaum. Nur einzelne Worte drangen zu mir durch. Es waren lehrreiche Worte, das erkannte ich. Ich wusste, meine Rolle wurde gerade besprochen. Die Teilnehmer offenbarten ihre Gefühle mit mir als dem „gehetzten Redner“. Daraus konnte ich viel lernen. Aber ich verstand nichts. In mir war Schöpfungschaos.
Immer wieder zog ich mein Gehirn zusammen, wollte zuhören, verstehen, wollte aufnehmen. Ich blickte auf, las die Lippen, hörte die Worte. Doch keines Drang vor bis in mein Verständnis. Ich senkte den Kopf wieder.
Lass die Welt doch in Ruhe, klang es in mir. Es sagte: In dir findest du den Frieden.
Ich saß einfach nur da und hatte erlebt, was meine Schattenseite, darf sie unkontrolliert handeln, in mir und meiner Gesellschaft anrichtet. Uff, entwich es mir, so will ich nicht sein.
Nachdem zwei andere Teilnehmer ihre Schattenseiten exemplarisch ausleben durften, klärte ich wieder etwas auf. Reden konnte ich aber erst einmal nicht mehr. Fühlen war jetzt angesagt. Wie das gehen sollte, wusste ich nicht genau. Weniger zu reden, war sicherlich ein Anfang. Das war die Schattenseite. In den nächsten Übungen ging es um unsere Lichtseite.
Wir kamen ihr auf die Schliche, indem wir eine Frage stellten: Was ist unsere größte Leidenschaft?

Die Lichtseite

Dieser Übung liefen einige kleine Schritte voraus, die zur folgenden Hinleiteten. Daher beschränke ich meine Erzählung auf das für mich Wichtigste. Es geschah erneut in einer Dreiergruppe.
Wir saßen auf Sitzkissen dicht voreinander. Ich bekam wieder 15 Minuten Zeit. Diesmal sollte ich mit wenigen Worten, vielleicht nur einem Verb, ausdrücken, was und wer ich gerne wäre, was für ein Mensch aus mir werden solle, was ich für eine mutige Wunschvorstellung von mir als ganzen Menschen ich hätte. Das war nicht einfach.
Ich begann abstrakt. Rund würde ich gerne sein. Irgendwie vollständiger als jetzt. Ich wäre gerne groß und bedeutsam, irgendwie, und erfolgreich, aber nicht rein monetär und materiell, nein, sondern irgendwie als menschliche Erscheinung.
So eierte ich durch die Worte. Die beiden anderen halfen mir. Missverständliche Antworten sollte ich umschreiben. All zu Konfuses bitte konkretisieren.
Ich kann nicht mehr sagen, wie es schließlich so weit kam. Irgendwann in dieser Art klarer Trance umfasste ich eine Beschreibung von einem Menschen. Es war ein ganzer Satz. Nach und nach schrumpfte dieser Satz. Bis schließlich nur noch zwei Worte übrig waren: ich fühle. Die waren der Schlüssel. Sie öffneten die Schleusen.
Plötzlich konnte ich nur noch weinen. Ich schluchzte richtig. Diese zwei Worte waren die reine Wahrheit. Es war eine Erleichterung. Ein riesiger Sack Zement wurde mir von den Schultern gerissen. Ich war so froh ihn endlich los zu sein, und brach innerlich vor Freude zusammen. Endlich durfte ich fühlen. Es gab nichts mehr zu tragen, alle Last hatte sich als Rauch verzogen. Ich schluchzte laut.
Fünf Minuten lang konnte ich nur flüstern. Ich berichtete von einem Wunsch, den ich mit 20 formulierte: Mein Leben solle intensiv sein, auf allen Ebenen. Das war es geworden, gestand ich. Aber anscheinend auch zu kopflastig.
Die Worte, erklärte ich, waren der Kern meiner Sehnsucht. Es ging um nichts anderes mehr für mich. Ja, das wollte ich leben. Diese zwei Worte enthielten meinen Weg zur Vervollkommnung meines Selbst. Freudentränen schufen einen Schleier für meine Augen, verschwammen den Blick nach außen, damit ich mich endlich ganz auf mich besinnen konnte.
Heute, während ich das schreibe, denke ich, ob wohl jemand meinen könnte, ich sei von Menschen manipuliert worden. In gewisser Weise wurde ich das, ja. Ich wurde von der Übung dahingehend manipuliert, mich mit mir selbst zu beschäftigen.
Zu keinem Zeitpunkt wurde ich gedrängt. Hin und wieder kamen Worte, die ich nicht selbst fand, aus anderen Mündern. Stets prüfte ich sie in mir auf ihre für mich gültige Wahrhaftigkeit. Die Personen, mit denen ich in dieser Dreiergruppe saß, waren Teilnehmer. Sie hörten mir zu, nickten, wenn sie wahrnahmen, dass ich der Wahrheit näher kam, stellten zweifelnde Fragen, wenn sie den Eindruck hatten, ich entferne mich von mir. Ich tat das Gleiche, wenn jemand anderes sprach.
Es war lediglich meine Beobachtung und meine Wahrnehmung, die mir anzeigte, ob der andere auf dem Weg zu sich war, das heißt, auf dem Weg zum Kern seiner Gefühle, oder sich gedanklich verworren im Kopf festhielt. Wenn die Worte den Kern der Gefühle trafen, flossen meist Tränen der Erkenntnis.

Kneten Teil 1

Am Dienstag, dem zweiten Seminartag, bekam jeder eine kleine Kugel Knetmasse. Der Auftrag war einfach. Wir sollten uns in uns versenken, möglichst wenig denken und einfach mal drauflos formen. Das, was in 15 Minuten entstehen würde, dürften wir interpretieren. Das seien wir in diesem Moment.
Meine Figur, während ich sie formte, ähnelte zuerst einer Schale. Aber erst als ich sie umdrehte, wurde mir offenbar, dass sie ein Podest darstellte. Und eine Haube. Ich wollte mich daraufstellen und darunter verstecken können.
Diese Gedanken schickte ich zur Prüfung in meinen Bauch. Der war ja inzwischen informiert, dass er dieses Woche mehr als sonst seine Meinung melden durfte.
Ja, ja, nein, nein, vielleicht, nein, doch, später egal, jetzt ja, war seine klare Antwort.
Ich spürte eine leichte Entspannung in Bauch und Denken und interpretierte dies als Übereinstimmung. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich sanfte Gefühle noch nicht deutlich erkennen. Aber ich war kognitiv in der Nähe des Gefühls, dass mich diese Form hatte machen lassen. Das war irgendwie klar.
Anschließend kamen wir wieder in einem Kreis zusammen. Jeder durfte seine Figur auf einem kleinen Tisch platzieren und eine Erklärung dazu abgeben. Wer den Impuls verspürte zu sprechen, tat es. Nach und nach offenbarte jeder Teilnehmer einen kleinen Blick auf seine Gefühlswelt. Wir lernten uns gegenseitig kennen, und uns selbst natürlich auch.
Nach ungefähr 90 Minuten war eine kleine Sammlung an charakterstarken Plastiken zusammengekommen mit ihrer ganz individuellen Geschichte.
Die Knetfigur nahmen wir mit in die Du-Phase

Kneten Teil 2

Während der Du-Phase hatte jeder einen Body, einen vertrauten Partner, mit dem er das Du erleben konnte. Bei einer Übung bekam dieser die Knetfigur des anderen. Der andere sollte eine Ergänzung kneten, aus einer andersfarbigen Knetmasse. Auch hierfür hatten wir wieder 15 Schweigeminuten Zeit. Danach präsentierten wir, natürlich wieder im Kreis sitzend, unsere Ergebnisse. Mein Body hatte meinem Podest Beine gestaltet. Es sollte stabil sein, aber nicht zu massiv am Boden stehen, und als Regenschutz dienen.

Kneten Teil 3

Teil 3 der Knetübung, einen Tag später, war das Ende der Du-Phase. Jeder übernahm wieder sein persönliches Figürchen. Nun sollte aus dem Ursprünglichen mit der Ergänzung etwas Ganzes geformt werden. Ich verwandelte mein Podest mit den Beinen in eine Schildkröte. Dieses langsame, weise Tier symbolisierte plötzlich auf absolut klare Art alle wesentlichen Aspekte, die ich über die letzten Tage in mir entdeckt hatte, die bisher unterdrückt gewesen waren. Die Schildkröte ist alles andere als hektisch. Wenn sie spricht, dann nur auf Nachfrage. Sie ist weise, beobachtet gerne aus Entfernung, ist außen hart und innen weich. Gegen pfeilschnelle Angriffe ist sie bestens geschützt. Für Schutz muss sie sich nicht einmal anstrengen. Sie hat ihre eigene Zeit, nimmt sich Zeit und ist schon von Geburt an steinalt. In einem Kreisgespräch drückte eine Frau das mit den Worten aus, ich sei vom Schwätzer zum Fühler geworden, was ihr spürbar große Freude bereitete, mich einerseits peinlich berührte, andererseits mit echtem Stolz erfüllte, aber zu keinem Kommentar aufforderte, denn ich war ja jetzt eine Schildkröte.

Die Du-Dyade

Ein für mich zentrale Erlebnis in der Du-Phase geschah während einer Dyade. Ich saß wieder jemandem gegenüber und schloss die Augen. Unser Coach führte uns in eine körperzentrierte Meditation: Mit unserer Aufmerksamkeit reisten wir von Fuß bis Kopf, in die Hände, zum Rücken, in Arme und Brustbereich - bis ich mich intensiv wahrnahm. Alles mit geschlossenen Augen. Dann wurden wir gebeten, leicht den Kopf zu heben, um über unseren Gegenüber hinweg zu blicken. Wir sollten spüren, dass wir nicht alleine im Raum seien. Ich tat, wie uns geheißen. Es fühlte sich an wie ein Sprung ins karibische Meer. Meine Selbstwahrnehmung wurde leicht abgeschwächt. Etwas Größeres, Weiteres kam hinzu. Weite und Wärme streichelten mich, umarmten mich. Ich war da, aber nicht allein. Die Welt war mein Freund. Ich mittendrin. Mein Atem blieb frei und gleichmäßig. Mein Herz schlug wie das eines Wals, der sich gerade treiben lässt. Dann sollten wir die Augen wieder schließen. Die nächste Aufforderung folgte.
Wenn wir bereit wären, dürften wir die Augen öffnen, und unserem Gegenüber in die Augen blicken. Ich besann mich einen Moment, öffnete die Augen und blickte in ein Augenpaar. Sofort riss mich ein Sog aus mir heraus in Richtung meines Gegenüber. Wie von einem Katapult geschossen flog meine Aufmerksamkeit aus mir heraus nach vorne. Ich verlor mich komplett. Für einen winzigen Moment war ich total aus mir herausschleudert. Es war so heftig, dass ich die Augen direkt wieder schloss. Sofort kam ich wieder zurück zu mir. Was war das denn? fragte ich mich erschrocken. Wenn ich das nächste Mal die Augen öffne, muss ich die Energie bei mir behalten, entschloss ich mich, ohne zu wissen, wie das gehen sollte.
Einige Atemzüge später öffnete ich die Augen erneut. Wieder packte mich der Sog. Wieder wollte mich die Energie, anders kann ich es nicht beschreiben, in Richtung meines Gegenübers verlassen. Aber diesmal wollte ich das nicht. Ich wollte, dass sie hier bei mir bliebe. Also nahm ich ein wenig Intensität aus meinem Blick. Die Energie reagierte direkt und schwappte zurück zu mir. Sah ich wieder aufmerksamer hin, flog sie wieder aus mir hinaus. Umso näher ich sie zu mir holte, desto sicherer fühlte ich mich mit mir. Umso weiter ich meine Aufmerksamkeit auf die andere Person lenkte, desto mehr verlor ich die Fähigkeit, mich selbst wahrzunehmen. Dieses hin und her spielte ich einige Sekunden, oder waren es Minuten? Ich strebte eine Balance an, kam aber nicht so weit. Es erklang die Zimbel und wir schlossen unsere Augen wieder.
Seit diesem Erlebnis hat ein Gesetz des Universums für mich absolute Gültigkeit, ohne jeglichen Zweifel: Energie folgt der Aufmerksamkeit. Das erkenne ich jetzt, nachdem ich es in intensiv erfahren habe. Dazu passt ja auch, dass manche Philosophen und Mystiker sagen: Wahre Erkenntnis kommt aus Erfahrung.

Der Wir-Prozess

Von Freitag Abend bis Sonntag Mittag saßen wir 34 Menschen insgesamt 12 Stunden in einem Stuhlkreis und hatten nichts zu tun. Es gab nichts zu planen, nichts zu besprechen. Es gab kein Thema, keine Aufgabe und kein Problem. Als Vorbereitung für den Prozess bekamen wir einige Kommunikationsempfehlungen für die Gemeinschaftsbildung. Dafür ging ein Coach vor Beginn mit einem Set Karten herum. Auf jeder Karte stand eine der Empfehlungen. Jeder, der wollte, zog eine Karte. Als alle vergeben waren, durfte man seine Karte vorstellen. Viele bezogen sie auf sich, erkannten sie als ein Zeichen, sich dieser Empfehlung besonders zu widmen.
Schließlich lagen alle Karten, für uns alle geltend, in der Mitte des Kreises:
• Sei pünktlich zu jeder Gesprächsrunde
• Sag deinen Namen, bevor du sprichst.
• Sprich in Ich-Form.
• Sprich von dir und deiner momentanen Erfahrung. Erforsche dich, doziere nicht.
• Verpflichte dich, am Ball zu bleiben. Bleibe bis zum Ende der Runde.
• Schließe ein. Vermeide, jemanden auszuschließen.
• Drücke dein Missfallen in der Gruppe aus, nicht außerhalb des Kreises.
• Sei verantwortlich für deinen persönlichen Erfolg, für das, was du für dich aus der Runde herausholst.
• Sei beteiligt mit Worten oder ohne. Sei emotional anwesend in der Gruppe. Höre aufmerksam und mit Respekt zu, wenn eine andere Person dir etwas mitteilt.
• Formuliere nicht schon eine Antwort während der andere spricht.
• Respektiere absolute Vertrautheit.
• Erkenne den Wert von Stille und Schweigen in Gemeinschaft.
• Gehe ein Risiko ein. Take a risk.
• Höre auf deine innere Stimme. Sprich, wenn du dazu bewegt bist.
• Sprich nicht, wenn du dazu nicht bewegt bist.

Mit dem Klang einer Zimbel ging es los. Und was losging, war mir in seiner Intensität völlig neu. Ich wage eine Beschreibung: Gewöhnlich begegnen wir uns Menschen in unserer Gesellschaft auf sehr intellektuelle Weise. Vor allem wenn wir in einem Kreis sitzen, uns ansehen und zuhören. Meist reden wir über eine Thema, das es zu besprechen gilt. Vor meinem inneren Auge ist dieses Kommunikationsfeld ein Energiefeld, das auf Kopfhöhe die Menschen verbindet. Im Kreis sitzenden verbindet es alle als einen Ring aus Kommunikationsenergie voller Informationen.

Nun geschieht folgendes: Ohne Thema, mit der Absicht alles kommen zu lassen, was kommen mag, tropft nach und nach diese Energie in die Bäuche der Anwesenden. Nach und nach erweitert der Kommunikationsraum seine Ausdehnung Richtung Bauch. Vor allem nach fünf Tagen Fühl-Erfahrung ist mir dieser Prozess vollkommen bewusst. Ich spüre noch, wie es sich körperlich anfühlt. Kopflastiges Denken hält meinen Atem in der Brust. Atme ich tiefer in den Bauch, wird er aktiviert. Meine Schultern entspannen sich, sacken nach unten. Im Bauch fängt es an zu grummeln und zu brodeln. Wärme entsteht. Dauert der Zustand lange genug an, wärmen sich meine Hände und Füße.
Sobald ich allerdings meine Aufmerksamkeit nach außen richte, sobald ich versuche auf eine Aussage rein inhaltlich einzugehen, mich also bemühe, eine sprachliche Variante meiner Gedanken mitzuteilen, verlasse ich den Bauch. Meine ruhige, tiefe Stimme wird gepresster und höher. So klingt meine scharfe Analyse jenseits der Gelassenheit.
Fühlen und Denken im Einklang ist für mich ein neuer Zustand. Im Wir-Prozess geht es genau darum. Das rein gedankliche Analysieren soll für eine Weile pausieren. Die Gefühle dürfen frei sein. Der Prozess lebt, wenn Menschen zu ihren Emotionen finden und diese mitteilen. Lediglich zu sagen, man sei traurig, reicht dabei nicht. Erst wenn das Gesagte emotional aufgeladen in die Welt klingt, kommt der Prozess einen Schritt voran.

Als Beispiel: Es wird für einen oder mehrere Zuhörer direkt spürbar, wenn der Sprecher traurig ist, und aus dieser Traurigkeit heraus spricht. Einige Zuhörer fühlen dann intensiv mit, weinen auch mit. Andere Zuhörer bleiben bei seiner speziellen Geschichte analysierend, verharren im Kopffeld, werden aber bei anderen Geschichten weich und entdecken das Fühlen, ihr eigenes und das Mitfühlen bei anderen Aspekten des Menschseins, bei anderen Geschichte.
Das klingt komplizierter als es ist. Man denke an ein Theaterstück: Der Text, von einem Sprecher emotionslos vorgetragen, kann sehr langweilig sein. Trägt ihn allerdings ein Schauspieler vor, der die Wut, oder die Traurigkeit, die Verzweiflung oder die Freude wahrhaftig auslebt, wirkt etwas auf das Publikum. Der Zuschauer hört dann nicht nur Text und sieht lediglich Bewegung, nein, er spürt Emotion, er spürt Lebendigkeit.
Wichtig: Nicht alles wirkt auf jeden gleich. Wir lachen und weinen über sehr unterschiedliche Dinge. Gut, zu wissen, ist: Wir fühlen dort am intensivsten mit, womit wir eigens erfahrene Gefühle verbinden. Als eine Tochter von ihrer innigen, warmherzigen Beziehung zu Ihrem Vater sprach, rührte mich das zu Tränen, weil ich an meine weniger herzliche Beziehung zu meinem Vater erinnert wurde.
Ein anderes Mal sprach eine ältere Dame über die Last ihrer Alltags-Fassaden. Diese aufrecht zu erhalten, sei sehr energieraubend. Dabei weinte fast die Hälfte der Anwesenden mit, weil sie das Gefühl kannten und mitfühlten.
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Im Kreis sitzend galt: Wenn sich jemand bewegt fühlte, etwas zu sagen, sagte er es.
Manche sagten viel, manche nicht ein Wort. Die Themen sprangen, schwankten und wandelten sich. Es weinten viele. Andere versuchten immer wieder aus Angst oder Unbehagen heraus, die Bauchenergien zu verdrängen. Manche äußerten beharrlich unpersönliche Analysen. Das traf, je weiter der Prozess fortgeschritten war, auf zunehmend mehr Missverständnis, zunehmend sogar auf blankes Unverständnis.
Jeder erlebt den Wir-Prozess auf seine ganz individuelle Weise. Aber es gibt auch eine übergeordnete Struktur. Der Wir-Prozess durchläuft vier Phasen:

Pseudogemeinschaft: Für dieser Phase gilt mein Bild mit dem Energieniveau auf Kopfhöhe. So ist die gewöhnliche Alltagswelt der meisten Menschen. Wir tauschen Worte aus, ohne den Mensch dahinter zu zeigen.

Chaos: Hier wusste ich lange Zeit nicht, was abgeht, was ich fühle, warum ich fühle, ob es meine Gefühle sind, die ich analysieren sollte, ob ich überhaupt etwas analysieren solle. Die Themen wechselten, Fragen tauchten auf, Antworten blieben aus. Einige Mal waren wir uns alle sehr nahe, dann sprengte ein Kommentar wieder alles auseinander.
Für die meisten, die beteiligt waren, war diese Phase sehr aufwühlend. In dieser Phase öffnen sich die Menschen und zeigen ihre Gefühlswelt. Als Dank schenken einzelne Mitgefühl. Wenn nahezu alle sich geöffnet haben, weich geworden sind, wenn jeder selbst erfahren hat, dass er hier eigenen Raum hat und mit anderen zusammen ist, die ähnlich emotional sind, macht sich eine Gelassenheit breit, die eine große Kraft gebären will.

Leere: Ich bezeichne sie als Stille nach dem Sturm, in der sich alle Ausruhen. Sie ist ein langes Schweigen.

Gemeinschaft: Wenn in jedem einzelnen die Energie aus dem Kopf in den Bauch getropft ist, er aus seiner innersten Gefühlswelt Informationen in die Gruppe gegeben hat, wenn alle, um in Pokersprache zu schreiben, All-In sind, dann verbinden sich die Bauchenergien und wir sehen uns ganz, wir erkennen uns als andere Menschen, als andere Facette alles Lebendigen, wir respektieren uns gegenseitig in unserer Individualität und fühlen unsere Schmerzen und unsere Wunden in den Schmerzen und Wunden anderer Menschen. Dann sind wir geborgen, und gleichzeitig Teil einer Gemeinschaft, die andere geborgen hält. Das ist wunderbar!

Fazit

Wenn ich in wenigen Worten zusammenfassen soll, wie die Woche war, wiederhole ich gerne den ersten Satz des Artikels: Die Seminarwoche war eine Schule des Fühlens. Sie war keine Therapiewoche. Es wurden viele Probleme erkennbar. Gelöst wurde keines. Darum ging es auch nicht. Vielmehr bekam ich sieben Tage lang die Chance, ausführlich und genau hinzusehen, damit ich erkennen kann, wer ich bin, und was ich alltagsbedingt und angstbesessen verstecke. Zu sehen und zu fühlen, dass ich mit meinen Sorgen und Ängsten nicht alleine bin, sondern mit einer großen Vielfalt an Menschen ähnliche Erlebnisse teilen kann, gibt mir Mut, Halt und Hoffnung.
Für mich hat sich offenbart, dass ich besser jetzt als später anfangen sollte, mich mehr auf meine Gefühle einzulassen. Werden sie verdrängt, brechen sie im Alter heraus, machen krank oder drängen mich in die Isolation.
Familienthemen haben fast alle. Manche stellen sich ihnen erst mit 70. Das ist gut. Es gilt: Besser spät als nie. Aber nachdem ich erkannt habe, wie umfassend intensiv es ist, die Gefühlswelt zu leben, möchte ich nicht warten, bis ich 70 bin.
Ich bin als Mensch, zu welchem Teil auch immer, ein fühlendes Wesen in dieser Welt. Und gleichfalls auch ein denkendes Wesen - vor allem in unsere Gesellschaft, die dem Denken so einen hohen Stellenwert einräumt. Die Übergewichtung des Denkens, die Identifikation mit dem eigenen Denken ist ein großer Schein, vielleicht sogar der große Betrug, der jeden einzelnen, der ihn nicht durchschaut, davon abhält, ein ganzer Mensch zu sein. Ich will lernen, ganz zu leben. Mein Denken soll mit meinem Fühlen gekoppelt sein.
Ich danke für diese tolle Woche!