Es nicht wie der Yogi machen

Der heutige Mensch soll nicht auf dem Umwege durch das Atmen, sondern er soll auf einem seelischeren Wege, auf einem Wege mehr des Gedankens selber sich in die geistigen Welten hinaufleben. Daher ist es heute richtig, wenn der Mensch in der Meditation, in der Konzentration seiner Gedanken und Bilder das, was sonst bloßer logischer Zusammenhang ist, in einen, ich möchte sagen, musikalischen Zusammenhang innerhalb des Gedankens selbst verwandelt.

Immer ist aber das heutige Meditieren zunächst ein Erleben in Gedanken, ein Übergang des einen Gedankens in den anderen, ein Übergang der einen Vorstellung in die andere. Während der alte indische Yogi von einer Atemart zu der anderen übergegangen ist, muß der heutige Mensch versuchen, lebendig sich mit seiner ganzen Seele zum Beispiel hineinzuleben in das Rot. Er bleibt also im Gedanklichen. Er lebt sich dann in das Blau hinein. Er macht den Rhythmus durch: Rot, Blau; Blau, Rot; Rot, Blau was ein Gedankenrhythmus ist, aber nicht so, wie er im logischen Denken abläuft, sondern als ein viel lebendigeres Denken.

Wenn der Mensch genügend lange solche Übungen macht, genügend lange mußte auch der alte Yogi seine Übungen machen , wenn er gewissermaßen den Schwung, den Rhythmus, die innere Qualitätsänderung: Rot, Blau; Blau, Rot; Hell, Dunkel; Dunkel, Hell erlebt, kurz, wenn er solche Anweisungen befolgt, wie Sie ja einzelne in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»finden; wenn der Mensch also stehenbleibend im Denken nun nicht gewissermaßen den Atem hineintreibt in den Nerven-Sinnesprozeß,s ondern wenn er gleich beim Nerven-Sinnesprozeß beginnt und den Nerven-Sinnesprozeß selber in einen inneren Schwung und Rhythmus und in eine Qualitätsänderung hineinbringt, dann erlangt er gerade das Gegenteil von dem, was der alte Yogi erlangt hat.

Der alteYogi schaltete gewissermaßen den Denkprozeß mit dem Atmungsprozeß zusammen; er machte eines aus dem Denkprozeß und dem Atmungsprozeß. Wir versuchen heute den letzten Zusammenhang zwischen dem Atmungsprozeß und dem Denkprozeß, der ja ohnehin sehr unbewußt ist, noch zu lösen.

Wenn Sie im gewöhnlichen Bewußtsein sind, wenn Sie im gewöhnlichen Bewußtsein nachdenken über Ihre natürliche Umgebung, so haben Sie niemals in Ihren Vorstellungen etwa einen bloßen Nerven-Sinnesprozeß, sondern da geht immer noch der Atem hinein. Sie denken, indem fortwährend Ihr Atem Ihren Nerven-Sinnesprozeß durchwellt und durchströmt. Alle Übungen des Meditierens der neueren Zeit gehen darauf aus, das Denken ganz loszulösen von dem Atmungsprozeß.

Dadurch reißt man es aber nicht etwa aus dem Rhythmus heraus, sondern man reißt es nur aus einem Rhythmus heraus, der der innere Rhythmus ist. Aber man verbindet dann allmählich das Denken mit einem äußeren Rhythmus. Indem man das Denken loslöst vom Atmungsrhythmus darauf gehen unsere heutigen Meditationen aus , läßt man das Denken gewissermaßen hineinströmen in den Rhythmus der äußeren Welt.

Der Yogi ging zu seinem eigenen Rhythmus zurück. Der heutige Mensch geht zu dem Rhythmus der äußeren Welt zurück.

Lesen Sie gleich die ersten Übungen, welche ich angegeben habe in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», wo ich zeige, wie man, sagen wir, das Keimen und das Wachsen einer Pflanze verfolgen soll. Die Meditation geht darauf hin, die Vorstellung, das Denken von dem Atmen loszulösen und es untertauchen zulassen in die Wachstumskräfte der Pflanze selber.

Das Denken soll in den Rhythmus hinausgehen, der die äußereWelt durchzieht. In dem Momente aber, wo das Denken wirklich in dieser Weise sich befreit von den leiblichen Funktionen, wo es sich losreißt vom Atem, wo es sich allmählich zusammenbindet mit dem äußeren Rhythmus, da taucht es unter, jetzt nicht in die sinnlichen Wahrnehmungen, in die sinnlichen Eigenschaften der Dinge, sondern da taucht es unter in das Geistige der einzelnen Dinge.

Wenn Sie eine Pflanze anschauen, sie ist grün, sie ist in der Blüte rot. Das sagt Ihnen Ihr Auge. Darüber denkt dann Ihr Verstand nach.Von dem lebt unser gewöhnliches Bewußtsein. Ein anderes Bewußtsein entwickeln wir, wenn wir das Denken losreißen vom Atem,wenn wir es verbinden mit dem, was da draußen ist. Dieses Denken, das lernt mit vibrieren mit der Pflanze, wie sie heranwächst, wie sie sich in der Blüte entfaltet, wie sie, bei einer Rose zum Beispiel, aus dem Grün in das Rote hinübergeht. Das vibriert hinaus in das Geistige, das allen einzelnen Dingen der Außenwelt zugrunde liegt.

Sehen Sie, das ist der Unterschied des modernen Meditierens von den Yogaübungen einer sehr alten Zeit. Dazwischen gibt es natürlich vieles, aber ich erwähne diese beiden Extreme. Und dadurch, daß der Mensch sich in diesen äußeren Rhythmus allmählich hineinlebt, geschieht nun folgendes.Der Yogi tauchte unter in seinen eigenen Atmungsprozeß. Er senkte sich selber in sich hinein. Dadurch bekam er das Selbst wie eine Erinnerung. Er erinnerte sich gewissermaßen an das, was er früher war, bevor er auf die Erde heruntergestiegen war.

Wir gehen mit unserer Seele aus unserem Leibe heraus. Wir verbinden uns mit dem, was da draußen im Rhythmus, also geistig lebt. Dadurch schauen wir jetzt dasjenige an, was wir waren, bevor wir auf die Erde heruntergestiegen sind. Sehen Sie, das ist der Unterschied.

Ich will es schematisch aufzeichnen: wenn das der Yogi war entwickelte er sein starkes Ich-Gefühl (rot) Mit diesem Ich-Gefühl erinnerte er sich an dasjenige, was er war, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist, wo er in einer geistig-seelischen Umgebung war (blau). Es ging der Strom der Erinnerung zurück (blau).

Wenn das hier der moderne übersinnliche Erkenner ist so entwickelt er einen solchen Vorgang, daß er aus seinem Leibe herausgeht (blau), dadurch in dem Rhythmus der äußerenWelt lebt, und jetzt als einen äußeren Gegenstand dasjenige anschaut (rot), was er vorher war, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist.

Nun ist das die eine Art gewesen, wodurch der Yogi sich in die geistigen Welten hinauf lebte. Eine andere Art war diese, daß er seinem Leib bestimmte Stellungen gab. Er machte zum Beispiel die Übung: Mit seinen Armen ausgestreckt längere Zeit zu verharren, oder er nahm eine ganz bestimmte Stellung an, indem er ein Bein über das andere kreuzte und sich auf seine eigenen Beine setzte und so weiter. Was erlangte er dadurch?

Dadurch, sehen Sie, kam er in die Möglichkeit hinein, wahrzunehmen, was diejenigen Sinne wahrnehmen, die man heute kaum berücksichtigt. Wir wissen ja, der Mensch hat nicht nur fünf, sondern zwölf Sinne. Er hat, wenn wir von den gewöhnlichen Sinnen absehen, zum Beispiel den Gleichgewichtssinn - ich habe über das öfter besprochen —, durch den er wahrnimmt, wie er sich im Gleichgewicht erhält, daß er nicht nach links, rechts, rückwärts, vorne fällt. Geradeso wie man Farben wahrnimmt, so muß man auch sein Gleichgewicht wahrnehmen, sonst würde man nach allen Seiten gleiten und umfallen. Der Betrunkene oder der Ohnmächtige nimmt das eben nicht wahr, daher taumelt er auch.

Nun, um sich diesen Gleichgewichtssinn zum Bewußtsein zu bringen, nahm der Yogi gewisse Attitüden des Organismus ein. Dadurch entwickelte er ein feines, starkes Gefühl für die Richtungen. Wir reden von Oben und Unten, Rechts und Links, Vorne und Hinten, als ob das alles ganz einerlei wäre. Das wurde für den Yogi allmählich etwas, was er sehr stark und fein empfand dadurch, daß er seinem Körper längere Zeit gewisse Stellungen gab. Er entwickelte dadurch gerade ein feines Gefühl für diese anderen Sinne, die ich außer den fünf Sinnen angeführt habe. Aber wenn diese anderen Sinne erlebt werden, haben sie einen viel geistigeren Charakter als die gewöhnlichen Sinne. Und der Yogi lebte sich dadurch wiederum hinein in ein Wahrnehmen für die Richtungen des Raumes.

Das müssen wir uns wieder erringen, aber auf eine andere Weise. Wir können, aus Gründen, die ich bei einer anderen Gelegenheit weiter ausführen werde, nicht in solcher Weise üben, wie es in der alten Yoga geschah. Aber indem wir solche Übungen des Denkens vornehmen, wie ich sie eben beschrieben habe, die sich loslösen können vom Atmen, die sich einleben in den äußeren Rhythmus, da erleben wir auf diese Weise den Unterschied in den Richtungen.

Wir erleben, was es heißt, daß das Tier lebenslänglich sein Rückgrat horizontal hat und daß der Mensch sein Rückgrat vertikal hat. Für die gewöhnliche unorganische Natur wissen die Menschen, daß die Magnetnadel nur nach der Richtung Nord-Süd weist, daß diese Nord-Süd-Richtung im Irdischen etwas Besonderes bedeutet für die Entwickelung der magnetischen Kraft, weil die Magnetnadel, die sich sonst neutral verhält, sich in diese Lage hineinfindet; daß das also eine besondere Richtung ist.

Indem wir uns in den äußeren Rhythmus mit unseren Gedanken hineinfinden, lernen wir erkennen, wie anders es ist, die Horizontallinie mit dem Rückgrat einzuhalten als die Vertikallinie. Wir lernen das alles im Gedanken selber, indem wir im Gedanken bleiben. Der indische Yogi lernte das auch, indem er seine Beine kreuzte, sich auf die eigenen Beine setzte und dabei die Arme hoch hielt. Er lernte also aus dem Körperlichen heraus das unsichtbare Bedeutungsvolle von Raumrichtungen. Der Raum ist nicht ein beliebiges Nebeneinander, sondern nach allen Seiten hin so organisiert, daß die Richtungen verschiedenen Wert haben. Solche Übungen also, die den Menschen hineinführen in die höhere Welt, wie ich sie jetzt geschildert habe, sind mehr Übungen, die nach der Gedankenseite hingehen.

Es gibt aber auch Übungen, die nach der anderen Seite hingehen, und da finden wir unter den mannigfaltigen Übungen, die auf diesem Felde vorhanden sind, die des asketischen Lebens, wo die Funktionen des physischen Leibes heruntergestimmt wurden, wo dem physischen Leibe geradezu allerlei Entbehrungen, Leidensvolles zugefügt wurde. Dadurch wurde der physische Leib gewissermaßen aus seinen normalen Funktionen herausgebracht. Was ältere Asketen nach dieser Richtung geleistet haben, davon macht sich der moderne Mensch keine Vorstellungen, denn der moderne Mensch, der will so gründlich als möglich in seinen Organismus hinein. Jedes Mal, wenn der alte Asket diese oder jene körperlichen Funktionen schmerzvoll unterdrückte, zog sich sein Geistig-Seelisches aus dem Organismus heraus.

Nicht wahr, wenn Sie leben, so wie eben im normalen Leben gelebt wird, dann ist das Geistig-Seelische mit dem physischen Organismus so verbunden, wie das eben zwischen Geburt und Tod nach der menschlichen Organisation sein soll. Wenn Sie die körperlichen Funktionen in asketischer Weise herabdrücken, dann geschieht etwas Ähnliches, wie es heute in minderem Grade bei den Menschen geschieht, die sich irgendwo etwas verletzen.

Nun, wenn man weiß, wie der heutige Mensch ist, wenn ihm nur ein klein wenig etwas weh tut, dann ist es klar, daß es von da ein weiter Abstand ist zu dem, was zuweilen alte Asketen ertrugen, um nur ihren seelischen Organismus freizubekommen. Dann erlebten sie aber mit dem seelischen Organismus, der durch die Askese aus dem Körper herausgetrieben wurde, in der geistigen Welt. Im wesentlichen sind eigentlich auf diesem Wege alle älteren großen Religionsvorstellungen gewonnen.

Die modernen Erklärer des religiösen Bewußtseins machen sich die Sache etwas leicht. Sie erklären die religiösen Vorstellungen für eine Dichtung, weil sie vor allen Dingen an dem Satze festhalten: Dasjenige, was der Mensch über die Welt an solchen Erkenntnissen gewinnen soll, das darf nicht weh tun. - Auf diesem Standpunkt standen eben die alten Religionssucher nicht, sondern sie waren sich klar: Wenn der Mensch in seinem physischen Organismus voll drinnensteckt - was für seine irdische Arbeit selbstverständlich das Richtige ist; es soll nicht ein falsches, weltfremdes Wesen etwa als das Richtige geschildert werden -, kann er nichts erleben in der geistigen Welt. Dieses Erleben in der geistigen Welt, das suchten eben die alten Asketen dadurch, daß sie den Körper abstumpften, ihm sogar Schmerz zufügten. Denn jedesmal, wenn sie aus einem Glied durch Schmerz das Geistig-Seelische heraustrieben, erlebte dieses Stück Geistig-Seelisches in der geistigen Welt. Und die großen Religionen sind eben nicht schmerzlos errungen, sondern sie sind durch gründliches Erleiden errungen. Dasjenige, was sich da als Ergebnisse der menschlichen Entwickelung mitgeteilt hat, das wird heute durch den Glauben aufgenommen.

Heute trennt man hübsch voneinander ab: Wissen auf der einen Seite, das Wissen soll Naturwissen der äußeren Welt sein. - Nun, das erwirbt man durch den Kopf. Der Kopf ist dickschädelig, dem tut das nicht weh, insbesondere weil auch die Erkenntnisse durch außerordentlich dünnmaschige Begriffe gewonnen werden. Und auf der anderen Seite: Was sich erhalten hat als ehrwürdige Traditionsvorstellungen, das nimmt man, wie man sagt, durch den Glauben auf. Aber eigentlich müßte man von einem gewissen Gesichtspunkt aus sagen:

Der Unterschied zwischen dem Wissen und dem Glauben ist der, daß man heute den Willen hat, als Wissen nur dasjenige gelten zu lassen, was nicht weh tut, wenn man es erringt, und daß man durch den Glauben, der auch nicht weht tut, dasjenige zu erringen sucht, was einmal als ein Wissen, das allerdings nicht der sinnlichen Welt angehört, auf sehr schmerzvolle, leidvolle Art errungen worden ist.

Nun, auch der asketische Weg kann nicht der Weg des Menschen der Gegenwart sein, trotz alledem, was ich eben gesagt habe. Warum, das werden wir bei einer anderen Gelegenheit betrachten. Aber es ist heute durchaus möglich, durch eine innere Selbstzucht, durch eine Willenszucht, dadurch, daß man seine Entwickelung, die sonst nur das Leben und die Erziehung bringt, selbst in die Hand nimmt, in der eigenen Persönlichkeit in die Willenswachstumskräfte einzugreifen. Wenn man sich zum Beispiel sagt: Du mußt in fünf Jahren dir etwas angewöhnt haben, und du willst diese fünf Jahre alle Gewalt deines Willens darauf lenken, dir dieses anzugewöhnen - wenn man dann so die Entfaltung des Willens nach der inneren Vervollkommnung treibt, dann löst man das Geistig-Seelische auch ohne Askese aus dem Leiblichen heraus, dann fühlt man zunächst das, was man in dieser Selbstvervollkommnung unternehmen muß, als etwas, was unter fortwährender Eigentätigkeit vollzogen werden soll.

Jeden Tag muß man irgend etwas innerlich verrichten. Es sind manchmal kleine Verrichtungen, aber sie müssen mit eisernem Fleiß und mit einer unwiderstehlichen Geduld ausgeübt werden. Man kann es ja öfter erleben, daß, wenn man den Leuten solche Übungen empfiehlt wie: Du sollst zum Beispiel an jedem Morgen einen ganz bestimmten Gedanken haben -, sie voller Feuereifer sind, das zu tun. Aber es dauert nicht lange, da erlahmt wiederum alles, und da soll die Sache von selber gehen. Da merken Sie, das wird mechanisch, weil sie die stärkere Kraft, die immer mehr und mehr nötig wird, nun nicht anwenden wollen.

Erstens hat man also diesen Widerstand der eigenen Trägheit zu überwinden; dann aber kommt der andere Widerstand, der von dem Objektiven herrührt. Es ist, wie wenn man sich durch etwas Dichtes hindurcharbeiten müßte, und dann kommt wirklich jenes innere Erlebnis, daß das Denken, das sich allmählich entwickelt hat, das lebendig geworden ist, das jetzt Raumrichtungen, überhaupt Lebendiges wahrnimmt, das in den Rhythmus der äußeren Welt sich hineinfindet, daß das einem weh tut, daß jede Erkenntnis, die errungen wird, schmerzt.

Ich kann mir ganz gut moderne Menschen vorstellen, die den Weg in die höheren Welten hinein gehen wollen. Sie fangen an. Die allererste leise Erkenntnis kommt. Das tut weh. Also bin ich krank, sagen sie. Es ist selbstverständlich, wenn einem etwas weh tut, so ist man krank. Aber wenn man höhere Erkenntnisse erringt, dann kann es einem manchmal sehr viel weh tun, und man ist doch nicht krank.

Es ist allerdings bequemer, anstatt fortzuschreiten auf dem Wege, den die höhere Erkenntnis notwendig macht - denn die seelischen Leiden werden immer größer-, es ist leichter, statt zu streben, diese seelischen Leiden zu überwinden, sich kurieren zu lassen. Man läßt sich etwas verschreiben, statt daß man auf dem Wege weitergeht. Selbstverständlich ist dies bequemer. Aber man kommt in der Erkenntnis nicht weiter dadurch.

Für den modernen Menschen ist es so, daß auch dieses Hineintauchen in den Schmerz, in das Leiden ein innerer seelischer Weg wird, so daß es sich rein seelisch abspielt, daß der Körper daran zunächst nicht eigentlich teilnimmt, insofern als der Körper robust und stark und der Außenwelt gewachsen bleibt, wie er es sonst bei den Menschen heute ist.

Dadurch aber, daß der Mensch beginnt, seine Erkenntnisse wie etwas an sich herankommen zu lassen, das Leid bedeutet, dadurch kommt er heute wiederum in diejenigen Regionen des geistigen Lebens hinein, aus denen einstmals die großen Religionswahrheiten geholt worden sind. Die großen Religionswahrheiten, das heißt diejenigen Wahrheiten, die religiös stimmen durch den Eindruck, den die höhere Welt, die übersinnliche Welt, die Welt, in der unsere Unsterblichkeit zum Beispiel wurzelt, macht, diese Wahrheiten können nicht ohne schmerzliche innere Erlebnisse errungen werden.

Wenn sie so errungen werden, können sie dann wiederum dem allgemeinen Menschenbewußtsein übergeben werden. Die Menschen sträuben sich heute gegen solche Wahrheiten aus dem einfachen Grunde, weil sie den Dingen anspüren, sie sind nicht so, wie man es gerne haben möchte. Denken Sie doch nur einmal, daß manchem schon recht fatal sein könnte, daß ich gestern gesagt habe: In diesen sich umwandelnden Astralleib, der dann im Herzen eingreift in den Ätherleib, da wird alles eingeschrieben, was der Mensch an Tätigkeit vollbringt, sogar dasjenige, was er einem anderen aufträgt, schreibt sich ein. Schon dieser Gedanke macht manchen zappelig im Inneren. Und die großen Wahrheiten fordern eben auch in gewissem Sinne einen inneren Mut der Seele, der sich dazu aufschwingt, sich zu sagen: Erlebst du diese Dinge, dann muß du bereit sein, Erkenntnis dir zu erringen durch Entbehrung und Schmerz.

Das soll nicht zur Entmutigung gesprochen sein, obwohl es heute für viele Menschen zur Entmutigung gesprochen ist, aber es ist eben einfach aus der Wahrheit heraus gesprochen. Was nützt es, den Menschen zu sagen, sie können im Wohlergehen in die höchsten Welten einziehen, wenn es doch nicht wahr ist, wenn das Eindringen in die höheren Welten erfordert, daß Überwindungen geschehen, daß Leidvolles überwunden werde.

Und so versuchte ich Ihnen heute zu schildern, meine lieben Freunde, wie man zu dem Menschlichen vordringt. Dieses Menschlich-Seelisch-Geistige ist ja tief innerlich im Menschen verborgen. Man muß erst zu ihm vordringen. Aber der Mensch muß auch, wenn er nicht selber vordringt, wissen, daß da in ihm ein Verborgenes ist, und er muß kennenlernen aus den Anforderungen der heutigen Zeit heraus, wie solche Dinge, wie sie gestern geschildert worden sind, in Wahrheit verlaufen.

Finden kann man solche Dinge nur auf solchen Erkenntniswegen, wie ich sie heute wieder angedeutet habe und wie sie in verschiedener Weise gegangen worden sind in alten und in neuen Zeiten.

Morgen wollen wir dann die gestrigen und die heutigen Betrachtungen verbinden in eine solche, die uns weiter hineinführen soll in die geistigen Welten, wie wir das auch heute versuchten.

GA 212 RUDOLF STEINER
Menschliches Seelenleben und Geistesstreben
im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung
Neun Vorträge, gehalten in Dornach vom 29. April bis 17. Juni 1922
SIEBENTER VORTRAG Dornach, 27. Mai 1922