Gefordert: Allgemeines Verständnis

[...] Sie sehen daraus, daß es sich bei Anthroposophie wirklich nicht darum handelt, für sektiererische Tanten- oder Onkelversammlungen Schematas zu liefern, nach denen sie auseinandersetzen können: der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und Ich, sondern daß es sich hier handelt um ein ganz ernsthaftes Erfassen des Menschen und seines Verhältnisses zur Welt, um ein Hineintragen des Geistigen in alles Materielle.

Und daß Anthroposophie das Geistige in dem Materiellen verfolgen kann, das ist etwas, was eingesehen werden muß, wenn Anthroposophie wirklich sich ihre Stellung in der Welt erobern will. Denn solange man bloß für die Tanten- und Onkelver­sarinnlungen in sektiererischen Zirkeln arbeitet, die da tradieren ihre Einteilungen des Menschen, so lange hat man es nur zu tun mit etwas, was in Streit kommt mit allen möglichen anderen sektiererischen Din­gen.

In dem Augenblicke aber, wo man tatsächlich zeigt, wie dasjenige, was man begreift in der Anthroposophie, eingreift in alles übrige Wis­sen, wie es, nach dem Ausspruche, den ich gestern getan habe, alles übrige Erdenwissen beleuchtet, sowie früher die Astrologie alle Erdenvorgänge beleuchtet hat, dann hat man an der Anthroposophie eben etwas, was in den modernen Zivilisationsprozeß eingreifen muß, damit ein wirklicher Aufbau auch gegenüber den von älteren Zeiten her kom­menden Abbauprozessen in dem menschlichen Zivilisationsprozeß Platz greifen kann. Solcher Ernst ist zu verbinden mit demjemgen, was man sein Bekennt­nis zur Anthroposophie nennen kann.

Gewiß kann der einzelne ja nicht immer in der Weise mitwirken, daß er zum Beispiel selber darauf kommt, wie Belladonna auf der einen Seite, Chlor auf der anderen Seite auf den menschlichen Organismus wirkt. Aber darum handelt es sich nicht, daß der einzelne das findet, sondern darum, daß in weiteren Kreisen ein Ver­ständnis, ein allgemeines Gefühls- und Empfindungsverständnis da ist, wie das dem Menschen Heilsame gerade aus anthroposophischer Welt- und Menschenerkenntnis heraus gewonnen werden kann.

Man verlangt ja auch nicht in der Waldorfschul-Pädagogik, daß jeder einzelne Mensch erziehen oder wenigstens die Kinder vom volksschul­pffichtigen Alter an erziehen kann. Man verlangt aber, daß im allge­meinen ein Verständnis dafür vorhanden ist, wie da aus Menschen- und Welterkenntnis heraus eine Pädagogik aufgebaut ist. Was Anthroposo­phie braucht, ist ein ihr entgegenkommendes Verständnis.

Es wäre ganz falsch, wenn man glauben würde, jeder einzelne sollte alles wissen. Aber es sollte die Wirksamkeit anthroposophlscher Gemeinschaft darin bestehen, daß sich ein allgemeines, auf den gesunden Menschenver­stand sich bauendes Verständnis findet für dasjenige, was im Sinne von Menschenheil und Menschenzukunft gerade durch die Anthroposo­phie angestrebt und zu verwirklichen versucht wird.

Quelle: DER UNSICHTBARE MENSCH IN UNS DAS DER THERAPIE ZUGRUNDE LIEGENDE PATHOLOGISCHE Dornach, 11. Februar 1923 Vor Mitgliedern - GA 221 Erdenwissen und Himmelserkenntnis