Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem ungesunden
Kant-Glauben. Die vorliegende Schrift soll ein Beitrag zu seiner
Überwindung sein. Frevelhaft wäre es, die unsterblichen Verdienste
dieses Mannes um die Entwicklung der deutschen Wissenschaft
herabwürdigen zu wollen. Aber wir müssen endlich
einsehen, dass wir nur dann den Grund zu einer wahrhaft befriedigenden
Welt- und Lebensanschauung legen können, wenn
wir uns in entschiedenen Gegensatz zu diesem Geiste stellen.
Was hat Kant geleistet? Er hat gezeigt, dass der jenseits unserer
Sinnen- und Vernunftwelt liegende Urgrund der Dinge, den
seine Vorgänger mit Hilfe falsch verstandener Begriffsschablonen
suchten, für unser Erkenntnisvermögen unzugänglich ist.
Daraus hat er gefolgert, dass unser wissenschaftliches Bestreben
sich innerhalb des erfahrungsmäßig Erreichbaren halten müsse
und an die Erkenntnis des übersinnlichen Urgrundes, des «Dinges
an sich», nicht herankommen könne. Wie aber, wenn dieses
«Ding an sich» samt dem jenseitigen Urgrund der Dinge nur ein
Phantom wäre!
Leicht ist einzusehen, dass sich die Sache so verhält. Nach dem
tiefsten Wesen der Dinge, nach den Urprinzipien derselben zu
forschen, ist ein von der Menschennatur untrennbarer Trieb. Er
liegt allem wissenschaftlichen Treiben zugrunde. Nicht die geringste
Veranlassung aber ist, diesen Urgrund außerhalb der uns
gegebenen sinnlichen und geistigen Welt zu suchen, solange
nicht ein allseitiges Durchforschen dieser Welt ergibt, dass sich
innerhalb derselben Elemente finden, die deutlich auf einen
Einfluss von außen hinweisen.
Unsere Schrift sucht nun den Beweis zu führen, dass für unser
Denken alles erreichbar ist, was zur Erklärung und Ergründung
der Welt herbeigezogen werden muss. Die Annahme von außerhalb
unserer Welt liegenden Prinzipien derselben zeigt sich
als das Vorurteil einer abgestorbenen, in eitlem Dogmenwahn
lebenden Philosophie. Zu diesem Ergebnisse hätte Kant kommen
müssen, wenn er wirklich untersucht hätte, wozu unser
Denken veranlagt ist. Statt dessen bewies er in der umständlichsten Art, dass wir zu den letzten Prinzipien, die jenseits unserer
Erfahrung liegen, wegen der Einrichtung unseres Erkenntnisvermögens
nicht gelangen können.
Vernünftigerweise
dürfen wir sie aber gar nicht in ein solches Jenseits verlegen.
Kant hat wohl die «dogmatische» Philosophie widerlegt, aber er
hat nichts an deren Stelle gesetzt. Die zeitlich an ihn anknüpfende
deutsche Philosophie entwickelte sich daher überall im
Gegensatz zu Kant. Fichte, Schelling, Hegel kümmerten sich
nicht weiter um die von ihrem Vorgänger abgesteckten Grenzen
unseres Erkennens und suchten die Urprinzipien der Dinge innerhalb
des Diesseits der menschlichen Vernunft.
Selbst Schopenhauer,
der doch behauptet, die Resultate der Kantischen
Vernunftkritik seien ewig unumstößliche Wahrheiten, kann
nicht umhin, von denen seines Meisters abweichende Wege zur
Erkenntnis der letzten Weltursachen einzuschlagen. Das Verhängnis
dieser Denker war, dass sie Erkenntnisse der höchsten
Wahrheiten suchten, ohne für solches Beginnen durch eine Untersuchung
der Natur des Erkennens selbst den Grund gelegt zu
haben.
Die stolzen Gedankengebäude Fichtes, Schellings und Hegels
stehen daher ohne Fundament da. Der Mangel eines solchen
wirkte aber auch schädigend auf die Gedankengänge der Philosophen.
Ohne Kenntnis der Bedeutung der reinen Ideenwelt
und ihrer Beziehung zum Gebiet der Sinneswahrnehmung bauten
dieselben Irrtum auf Irrtum, Einseitigkeit auf Einseitigkeit.
Kein Wunder, dass die allzukühnen Systeme den Stürmen einer
philosophiefeindlichen Zeit nicht zu trotzen vermochten, und
viel Gutes, das sie enthielten, mit dem Schlechten erbarmungslos
hinweggeweht worden ist.
Einem hiermit angedeuteten Mangel sollen die folgenden Untersuchungen
abhelfen. Nicht wie Kant es tat, wollen sie darlegen,
was das Erkenntnisvermögen nicht vermag; sondern ihr
Zweck ist, zu zeigen, was es wirklich imstande ist.
Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit
nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung
von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des
Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir
es nicht selbst hervorbrächten.
Die Aufgabe der Erkenntnis ist
nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher
Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu
schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen
erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit
des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen
Weltgeschehen eingegliedert.
Ohne diese Tätigkeit
wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene
Ganzheit zu denken.
Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber
nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das
bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht,
sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und
das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums.
Für die Gesetze unseres Handelns, für unsere sittlichen Ideale
hat diese Anschauung die wichtige Konsequenz, dass auch diese
nicht als das Abbild von etwas außer uns Befindlichem angesehen
werden können, sondern als ein nur in uns Vorhandenes.
Eine Macht, als deren Gebote wir unsere Sittengesetze ansehen
müssten, ist damit ebenfalls abgewiesen.
Einen «kategorischen
Imperativ», gleichsam eine Stimme aus dem Jenseits, die uns
vorschriebe, was wir zu tun oder zu lassen haben, kennen wir
nicht. Unsere sittlichen Ideale sind unser eigenes freies Erzeugnis.
Wir haben nur auszuführen, was wir uns selbst als Norm
unseres Handelns vorschreiben.
Die Anschauung von der
Wahrheit als Freiheitstat begründet somit auch eine Sittenlehre,
deren Grundlage die vollkommen freie Persönlichkeit ist.
Diese Sätze gelten natürlich nur von jenem Teil unseres Handelns,
dessen Gesetze wir in vollkommener Erkenntnis ideell
durchdringen. Solange die letzteren bloß natürliche oder begrifflich
noch unklare Motive sind, kann wohl ein geistig Höherstehender
erkennen, inwiefern diese Gesetze unseres Tuns
innerhalb unserer Individualität begründet sind, wir selbst aber
empfinden sie als von außen auf uns wirkend, uns zwingend.
Jedesmal, wenn es uns gelingt, ein solches Motiv klar erkennend
zu durchdringen, machen wir eine Eroberung im Gebiet der
Freiheit.
Wie sich unsere Anschauungen zu der bedeutendsten philosophischen
Erscheinung der Gegenwart, zur Weltauffassung Eduard
von Hartmanns, verhalten, wird der Leser aus unserer
Schrift in ausführlicher Weise, soweit das Erkenntnisproblem in
Frage kommt, ersehen.
Eine Philosophie der Freiheit ist es, wozu wir mit dem Gegenwärtigen
ein Vorspiel geschaffen haben. Diese selbst in ausführlicher
Gestalt soll bald nachfolgen.
Die Erhöhung des Daseinswertes der menschlichen Persönlichkeit
ist doch das Endziel aller Wissenschaft. Wer letztere nicht
in dieser Absicht betreibt, der arbeitet nur, weil er von seinem
Meister solches gesehen hat, er «forscht», weil er das gerade zufällig
gelernt hat. Ein «freier Denker» kann er nicht genannt
werden.
Was den Wissenschaften erst den wahren Wert verleiht, ist die
philosophische Darlegung der menschlichen Bedeutung ihrer
Resultate. Einen Beitrag zu dieser Darlegung wollte ich liefern.
Aber vielleicht verlangt die Wissenschaft der Gegenwart gar
nicht nach ihrer philosophischen Rechtfertigung! Dann ist
zweierlei gewiss: erstens, dass ich eine unnötige Schrift geliefert
habe, zweitens, dass die moderne Gelehrsamkeit im Trüben
fischt und nicht weiß, was sie will.
Am Schlusse dieser Vorrede kann ich eine persönliche Bemerkung
nicht unterdrücken. Ich habe meine philosophischen Anschauungen
bisher immer anknüpfend an die Goethesche Weltanschauung
dargelegt, in die ich durch meinen über alles verehrten
Lehrer Karl Julius Schröer zuerst eingeführt worden bin,
der mir in der Goetheforschung so hoch steht, weil sein Blick
immer über das Einzelne hinaus auf die Ideen geht.
Mit dieser Schrift hoffe ich aber nun gezeigt zu haben, dass
mein Gedankengebäude eine in sich selbst begründete Ganzheit
ist, die nicht aus der Goetheschen Weltanschauung abgeleitet zu
werden braucht. Meine Gedanken, wie sie hier vorliegen und
weiter als «Philosophie der Freiheit» nachfolgen werden, sind
im Laufe vieler Jahre entstanden.
Und es geht nur aus einem
tiefen Dankesgefühl hervor, wenn ich noch sage, dass die liebevolle
Art, mit der mir das Haus Specht in Wien entgegenkam
während der Zeit, in der ich die Erziehung der Kinder desselben
zu besorgen hatte, ein einzig wünschenswertes «Milieu» zum
Ausbau meiner Ideen darbot; ferner dass ich die Stimmung zum
letzten Abrunden manches Gedankens meiner vorläufig auf S.
86 bis 88 keimartig skizzierten «Freiheitsphilosophie» den anregenden
Gesprächen mit meiner hochgeschätzten Freundin Rosa
Mayreder in Wien verdanke, deren literarische Arbeiten, die
aus einer feinsinnigen, vornehmen Künstlernatur entspringen,
voraussichtlich bald der Öffentlichkeit übergeben sein werden.
Geschrieben zu Wien,
Anfang Dezember 1891
Dr. Rudolf Steiner
Die Vorrede aus Rudolf Steiner - Wahrheit und Wissenschaft - Vorspiel einer „Philosophie der Freiheit“, 1892