Aspekte einer integralen Psychologie - Die Rehabilitation der Innerlichkeit

Die materialistisch orientierten Wissenschaften der vergangenen Jahrhunderte haben im Rausch ihrer grandiosen Ergebnisse die diversen Arten der Innerlichkeit und Innenweltbetrachtung des Menschen in die Selbstrechtfertigung getrieben. Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft dominieren noch immer das heutige Weltbild und halten sich in einer Weise für einzig real, die der Kunst und Literatur, dem Seelischen, Geistigen und Spirituellen die Rolle der Aufhübschung von Feierabend und Freizeit zuweist. Auch die Psychologie – eigentlich Wissenschaft der Seele – hat die Einseitigkeit solcher Ãœberbewertung der Außenwelt zu spüren bekommen. Dem setzt seit der Jahrtausendwende die neue Bewegung der Integralen Psychologie, die sich stark auf Ken Wilber bezieht, ein Menschenbild entgegen, in dem Innen- wie Außenwelten gleichermaßen zur Geltung kommen

Ein Text von Michael Habecker

Irgendwann vor sehr langer Zeit muss es passiert sein. Ein Mensch oder ein früher Vorfahre des Menschen ist sich zum ersten Mal, wenn auch vielleicht nur ganz vage und unbestimmt, seiner eigenen Innerlichkeit bewusst geworden. Möglicherweise hat dieser Mensch etwas Ähnliches gespürt wie »Da ist etwas in mir«, ohne dies jedoch schon so formulieren zu können. Innerlichkeit existiert natürlich schon viel früher. Wenn man Ken Wilber glauben möchte, dann ist ein Innen (oder Bewusstsein) im Universum von Anfang an angelegt. Wilber vertritt einen Pan- Inner-ismus (oh je!). Für ihn beginnt Innerlichkeit schon ganz unten auf der Entwicklungslinie: Sie fängt bei subatomaren Teilchen an und reicht bis ganz nach oben, in etwa nach dem Motto: »Wo ein Außen ist, da ist auch ein Innen«.

Innerlichkeit

Doch das Angelegtsein von Innerlichkeit ist das eine. Das Sich -Bewusst-Werden derselben ist etwas anderes. Irgendwann in früher Vorzeit muss das zum ersten Mal geschehen sein. So wie es auch in der Frühgeschichte der Erde einen Zeitpunkt gegeben haben muss, zu dem zum ersten Mal etwas blühte. Auch in der individuellen Biografie und Entwicklung eines jeden Menschen gibt es einen Punkt, wo er oder sie zum ersten Mal selbst-bewusst wird, im Sinne von » Ich erlebe mich als ein empfindendes Wesen«. Das ist individuell wie kollektiv ein großartiger Augenblick – eine Schöpfung! Es ist auch die Geburtsstunde der Geisteswissenschaften, verstanden als der Summe aller Methoden der Erforschung dieses Innen-Erlebens. Insbesondere in einer Zeit und Welt ist das interessant, in der materialistisc e (Geistes!) Strömungen, Innerlichkeit oder Bewusstsein als etwas Eigenständiges und Reales leugnen. [1]

Psychologie

Die Psychologie hat dabei noch einen relativ guten Stand , gilt sie doch noch am ehesten als wissenschaftlich und akademisch salonfähig, wissenschaftlicher jedenfalls als so etwas wie »Spiritualität «. Dabei half zu Beginn der Psychologie ein einfacher und genialer (psychologischer) Trick: Was vorher Seelenkunde hieß, wurde umbenannt in Psychologie. »Psyche« statt »Seele«, das klang wissenschaftlicher und schien freier zu sein von all dem assoziativen und prämodernen religiösen Ballast. Aber eigentlich gab es keinen Unterschied. Jedenfalls kann man heute, ohne gleich als unwissenschaftlich abgestempelt zu werden, etwas behaupten wie: » Psychologie ist eine empirische Wissenschaft. Sie beschreibt und erklärt das Erleben und Verhalten des Menschen, seine Entwicklung im Lauf des Lebens und alle dafür maßgeblichen inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen.« (Wikipedia) . Aber was genau ist denn nun Psychologie? Schauen wir uns dazu das Thema mal mithilfe der Wilberschen vier Quadranten an als vier möglicher Perspektiven, wie Psychologie betrachtet werden kann (siehe Abbildung unten). Diese vier unterschiedlichen Perspektiven haben zu vier unterschiedlichen Richtungen der Psychologie geführt. Die integrale Theorie und Praxis erkennt sie alle an, ohne einzelne davon zu verabsolutieren. Gehen wir sie kurz durch.

Behaviorismus


Abb.1: Vier Perspektiven auf die Psychologie

Rechts oben finden wir die behavioristischen Psychologien. Der Mensch wird als ein sich verhaltendes Reiz-Reaktionssystem gesehen. Alles, was man über ihn wissen möchte, kann man aus seinem Verhalten, seiner Körperchemie, oder auch seinen Gehirnströmen und den Mustern seines sich selbst organisierenden Gehirns erfahren. Das Praktische dabei ist, man muss sich nicht mit so »fehleranfälligen« Methoden wie Introspektion oder Dialog abmühen, sondern kann sich allein auf die Beobachtung beschränken. John B. Watson, ein Vertreter dieser Richtung, bringt in seinem Buch Behaviorismus die Verabsolutierung dieser Methode wie folgt auf den Punkt: Mit aller Wahrscheinlichkeit kann man die restlichen Probleme [der Psychologie] noch so umformulieren, dass feinere Methoden der Verhaltensforschung (die sicher kommen müssen) zu ihrer Lösung führen. Ohne dieser Verabsolutierung zu folgen, bleibt festzuhalten, dass der Behaviorismus wichtige (Teil-)Erkenntnisse zu einer integralen Psychologie liefert, welche die anderen Perspektiven nicht liefern können.

Systemische Psychologien

Niklas Luhmann, ein bedeutender Systemtheoretiker, kommt, aus der Perspektive des unteren rechten Quadranten, zu einer ganz anderen Psychologie: Man muss nicht vom Bewusstsein des Menschen ausgehen, auch nicht von der Intersubjektivität, sondern von einem gegenseitigen Konstitutionszusammenhang autopoietischer Systeme. Auch hier werden »ungenaue« Begriffe und Methoden wie Bewusstsein oder auch intersubjektiver Austausch von vornherein vermieden, und die Blickrichtung richtet sich auf sich selbst aufrecht erhaltende Systeme, von denen dann auf Innerlichkeit oder Bewusstsein geschlossen wird. Ein berühmter Pionier dieser Perspektive ist Karl Marx, mit seinem legendären Satz: Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. In diesem einen Satz vereinigen sich sowohl die Größe als auch die Grenze der systemischen Perspektive auf den Menschen. Es ist unzweifelhaft, dass die Systeme, in denen wir leben (Wirtschaft, Finanzen Politik, Bildung, Internet usw.), nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser Bewusstsein und unsere Psychologie mitbestimmen. Aber sie sind nicht der einzige und auch nicht der kausale Bestimmungsfaktor, sondern, wenn man dem Modell der Quadranten folgen will, nur einer von vier. Alle Versuche, durch Systemveränderungen alleine den »neuen Menschen « zu erschaffen, waren bisher, vorsichtig formuliert, nicht erfolgreich.

Die phänomenologische Psychologie

Die Perspektive des oberen linken Quadranten bestimmt Psychologie aus dem subjektiven Erleben heraus und kommt vom Geist her. Hier treffen wir auf eine phänomenologisch orientierte Psychologie. Dies ist weniger kompliziert, als es vielleicht klingt. Wenn ein Klient zum Psychologen geht, fragt dieser meist zuerst nach den Inhalten (oder Phänomenen) des Bewusstseins des Klienten, die den Klienten zum Psychologen führen – z. B. »Ich habe oft Angst«. Die Phänomene des Bewusstseins sind hier der Ausgangspunkt psychologischer Methoden, die dann auch auf Strukturen und Dynamiken des Bewusstseins schließen lassen. Die Blickrichtung der zwei vorher aufgeführten materialistischen Orientierungen wird hier umgekehrt: Wirklichkeit wird aus dem Geist heraus erklärt und betrachtet. Die geistige Seite der Psychologie, für viele die eigentliche Psychologie, rückt hier in den Vordergrund. Mehr dazu weiter unten im Text.

Psychologie der Kollektive

Schließlich bleibt noch die Perspektive des unteren linken Quadranten, als die Sicht auf kollektive Innerlichkeit, was früher mit »Völkerpsychologie« (ein Buchtitel von Wilhelm Wundt) oder »Psychologie der Massen« (so ein weiterer Buchtitel) bezeichnet wurde. Die Frage dabei ist, was passiert in Gruppen von Menschen, und wie lassen sich Massenphänomene wie Gefolgschaft, Rebellion oder Fankult, aber auch Stimmungswandel und Wählerverhalten von innen heraus erklären? Eine integrale Psychologie wird alle vier genannten psychologischen Richtungen würdigen und diese als unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema und Phänomen nutzen, und wird deren Ergebnisse in einer integralen Psychologie zu einem Gesamtbild zusammenführen. Sie wird weiterhin das wichtige Thema Entwicklung berücksichtigen (»Entwicklungspsychologie«) und auch die Erkenntnisse der typologisch ausgerichteten Persönlichkeitspsychologien einbeziehen (wie z. B. die von C. G. Jung ausgearbeitete Psychologie von Anima/Animus oder von introvertiert/extrovertiert). Wenn wir Psychologie in einem engeren Sinne als eine Wissenschaft vom Bewusstsein (oder »Erleben und Verhalten«) betrachten, dann sollten wir, so ein Vorschlag von Wilber, hinsichtlich des Bewusstseinsbegriffs mindestens drei Aspekte unterscheiden, und zwar Inhalte, Strukturen und Dynamiken des Bewusstseins.

Inhalte des Bewusstseins

Die Inhalte (oder Phänomene) des Bewusst - seins sind das, worauf man als erstes stößt, wenn man in sich geht. Es sind »Dinge« (als versprachlichte Erlebnisinhalte) wie: Abscheu, Aggression, Angst, Bedrückung, Begeisterung, Druck, Eifersucht, Einsamkeit, Ekel, Enttäuschung, Freude, Furcht, Gier, Glück, Hass, Heiterkeit, Hunger, Jucken, Kälte, Leid, Liebe, Lust, Nervosität, Reue, Schadenfreude, Scham, Schmerz, Schuld, Sorge, Stärke, Stille, Ãœbelkeit, Verlegenheit, Vertrauen, Verwirrung, Wut, Zuneigung, Zuversicht, Wärme ... und vieles mehr. Manches wird körperlichsomatisch, anderes emotional oder auch gedanklich erlebt. Eine bestimmte Gruppe von Erlebnisinhalten (wie Einssein, Glückseligkeit, Leerheit, dunkle Nacht) wird als religiös oder spirituell bezeichnet. Hier berühren und überschneiden sich eine auf Erlebnisinhalte ausgerichtete phänomenologische Psychologie mit der Spiritualität und der erfahrungsorientierten Religion. Dies ist auch die erste und älteste Form von Psychologie, angefangen bei den frühesten Schamanen und deren Erleben von anderen Welten. Und schließlich kann man sich auch die Frage stellen, ob es neben all dem, was sich in der Wahrnehmung verändert, auch etwas gibt, was unveränderlich, »ungeboren«, ewig ist. Hier geht die Psychologie in die gestaltlose Mystik über, welche dem (Seins)grund aller (auch) psychologischen Erfahrung buchstäblich auf den Grund geht. Die Praxis für das Kennenlernen und Erleben von Bewusstseinsinhalten ist jede Art von Innenschau und Wendung nach innen, dazu gehören Innehalten, Introspektion, Meditation und Kontemplation.

Strukturen des Bewusstseins

Weit weniger offensichtlich, obwohl unglaublich wirksam, ist die zweite der genannten Kategorien, die der Bewusstseinsstrukturen. Während Bewusstseinsinhalte kommen und gehen, sind die psychologischen Strukturen das, was unseren »Charakter« ausmacht. Damit interpretieren wir die Inhalte unserer Wahrnehmung und geben ihnen einen Kontext. Das oft präsentierte einfache Beispiel mit dem Wasserglas – je nach Betrachtungsweise ist es halbvoll oder halbleer – weist auf dieses grundlegende psychologische Merkmal hin: Eine optimistische Persönlichkeitsstruktur sieht eine andere Welt als eine pessimistische, und das gilt nicht nur für ein Wasserglas, sondern für alles, was wir wahrnehmen, innerlich, zwischenmenschlich und äußerlich, profan ebenso wie spirituell. Der entscheidende Punkt hierbei ist: Unsere Wahrnehmungen selbst sagen uns das nicht. Das Wasserglas, auch wenn ich lebenslang darüber meditiere, sagt mir nicht, ob ich ein Pessimist, Optimist, Traditionalist Masochist oder Egoist bin, sondern um meine pessimistische Persönlichkeitsstruktur herauszufinden, muss ich andere Methoden anwenden. Zum Beispiel die des Dialogs und Vergleichs. Das ist der Hauptgrund, warum die überwiegend phänomenologisch ausgerichteten spirituellen Praktiken diese Strukturen – einschließlich eigener Persönlichkeitsstrukturen – nicht erkennen können.[2]

Wie bin ich strukturiert?

Wie kann man die eigene Strukturiertheit wahrnehmen? Ich kann z. B. Menschen, die mich kennen und von denen ich annehme, dass sie ehrlich zu mir sind, fragen, wie sie mich von meiner Persönlichkeit her erfahren: »Beschreibe mich mal, wie ich bin!«. Ich kann dann dasjenige, worin eine große Ãœbereinstimmung bei den Antworten herrscht, als eigene Persönlichkeitsstrukturen annehmen, auch wenn ich mich selbst überhaupt nicht so sehe und erlebe. Ich kann mich ferner mit entwicklungspsychologischen Modellen beschäftigen und deren Beschreibungen unterschiedlicher Entwicklungsstufen einfühlend studieren und dabei auf Reaktionen achten wie zustimmend – neutral – ablehnend. Dies kann mir eine Auskunft da - rüber geben, ob ich eine bestimmte Stufe integriert oder verdrängt habe, ob ich damit identifiziert bin oder ob ich sie noch gar nicht erreicht habe. Die Praxis der Erkenntnis von Bewusstseinstrukturen ist daher nicht Meditation, sondern empathisches Studium und Dialog. Intuitiv ist uns unsere Strukturiertheit schon lange bekannt. Wir Menschen haben dafür in unseren Sprachen Begriffe gefunden wie: altruistisch, anmaßend, arrogant, egoistisch, eingebildet, ehrgeizig, ernsthaft, freundlich, fröhlich, geduldig, geizig, idealistisch, individualistisch, konstruktivistisch, kritisch, liberal, materialistisch, misanthropisch, mutig, nachtragend, ökologisch, optimistisch, pessimistisch, sparsam, skeptisch, sozial, stur, verschwenderisch. All diese Begriffe beschreiben nicht vorübergehende Zustände im Bewusstsein, sondern relativ stabile psychologische Grundmuster von Menschen, die ihr Denken, Handeln und Sprechen prägen. Und diese Erkenntnis ist relativ neu: So wie vieles andere, entwickeln sich auch diese Strukturen. Daraus ist die Entwicklungspsychologie hervorgegangen, mit sehr vielen verschiedenen Modellen unterschiedlicher »Linien« oder »Kompetenzen « oder »Intelligenzen«, von denen das Modell Spiral Dynamics als ein Modell der Werteentwicklung nur eins von vielen ist. Dynamiken des Bewusstseins Die dritte der genannten Bewusstseinskategorien, die Bewusstseinsdynamiken, verweisen darauf, dass die Inhalte unseres Bewusst - seins nicht einfach nur herumliegen und da - rauf warten, von den Hintergrundstrukturen interpretiert zu werden. Stattdessen ist es so, dass eine enorme Fülle von Wechselwirkungen in unserem Bewusstsein (bzw. Unbewussten) vonstatten gehen, die wir generell als Psychodynamik bezeichnen. Das ist seit langem bekannt. Systematisch erforscht wird dies allerdings erst seit etwa dem Jahr 1900; Sigmund Freud und C. G. Jung waren auf diesem Gebiet Pioniere. Auch hierfür gibt es eine eigene Sprache, mit Begriffen wie: Abspaltung, Adaption, Fehlleistung, Fixierung, Hemmung, Kompensation, Komplex, Neurose, Phobie, Projektion, Psychose, Regression, Sublimierung, Suggestion, Tabu, Trauma, Ãœbertragung, Verdichtung, Verschiebung, Wahn, Zwang ... Unter der Ãœberschrift »kognitive Verzerrungen « finden sich in der Literatur lange Listen von verschiedensten Möglichkeiten, wie wir uns selber psychologisch täuschen können, als eine Art geistige Ergänzung zu der Vielzahl von optischen Täuschungen. Auch diese Erkenntnisse sind schon lange intuitiv erspürt und beschrieben worden. Das Gleichnis vom Splitter im Auge des anderen als Metapher für eine Reflexion des Balkens im eigenen Auge zeigt eine frühe und geniale Intuition der Verdrängungs- und Projektionsdynamik. (»Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?«, Matthäus 7,3). Aus einer ähnlich frühen Zeit stammt die Empfehlung »Lasse die Sonne nicht über deinem Zorn untergehen«, als ein Rat, sich um die eigenen schwierigen Emotionen zu kümmern. Die Erkentnis dieser Psychodynamiken ist ein enormer Beitrag zur Bewusstwerdung. Die Praxis dazu besteht im einfühlsamen Studium der entsprechenden Literatur sowie im Dialog mit anderen.

Der Schatten

Wenden wir uns zum Abschluss noch dem Thema Schatten zu. In einer allgemeinen Definition können wir damit alles das bezeichnen, was für unser Bewusstsein und Verhalten relevant wäre, wenn wir es denn wüssten, das sich jedoch außerhalb unserer individuellen oder kollektiven Wahrnehmung befindet. Bewusstwerdung im Sinne einer am Schatten orientierten Psychologie ist ein Weg der Aufdeckung des Schattens. Eine einfache Kategorisierung kann uns dies verdeutlichen. Dabei unterschieden wir drei Aspekte des Unbewussten (oder des Schattens im weiteren Sinn): 1. noch nicht aufgetauchtes Unbewusstes 2. identifiziertes Unbewusstes 3. verdrängtes (projiziertes und/oder symptomatisiertes) Unbewusstes.

Das noch nicht aufgetauchte Unbewusste

Das noch nicht aufgetauchte Unbewusste ist dabei das, was für einen Menschen oder eine Gemeinschaft noch nicht aufgetaucht ist, in Zukunft aber auftauchen kann. Dies kann ein Aspekt der äußeren Welt sein, aber auch ein Aspekt der inneren Welt, wie die oben beschriebenen Inhalte, Strukturen und Dynamiken des Bewusstseins. Es kann in einem selbst liegen oder in anderen. Die Praxis der »Schattenarbeit« als Weg der Selbstentwicklung besteht im Erlernen und Erfahren von immer neuen Erkenntnishorizonten. Die Instrumente auf diesem Weg sind gute Landkarten und Lehrer/Begleiter/Mentoren, die möglichst viel von Wirklichkeit möglichst genau abbilden, beschreiben und Erfahrungswege öffnen – und natürlich das Leben selbst. Das Erleben von Entwicklungsschritten besteht hier in kleinen oder großen Aha-Effekten wie: »Aha, das habe ich bisher nicht gewusst, jetzt bin ich schlauer und erfahrungsreicher«. Eine Psychodynamik dabei ist die des Widerstands, als ein Widerstand gegen Neues, Unbekanntes, Ungewohntes und Unangenehmes.

Das identifizierte Unbewusste

Das identifizierte Unbewusste ist das, womit ein Menschen (oder eine Gemeinschaft) identifiziert ist – metaphorisch gesprochen ist es das Wasser, in dem wir wie Fische schwimmen. Dieses Unbewusste ist nicht verdrängt, sondern uns so nahe, dass wir es nicht sehen können. Dazu gehört z. B. die Entwicklungsstufe (und Struktur), auf der wir uns gerade befinden – mit der wir derzufolge identifiziert sind. Die Praxis der Schattenarbeit besteht nun in der Auseinandersetzung mit Irritationen des Alltags und dem Verstehen, inwieweit sie mit einer Identifikation zu tun haben – im Erkennen der Identifikation verbirgt sich die Chance, sich davon zu befreien. Die Instrumente dabei sind innere Achtsamkeit (auf Irritationen), Austausch, Dialog und die geistige Auseinandersetzung damit. Das Erleben ist eines von: »Aha, damit war ich bisher identifiziert jetzt habe ich das, und bin es nicht mehr«. Weit verbreitete Psychodynamiken dabei sind Widerstände und Abwehr gegen das Auslösen (im Psychojargon »Triggern« genannt) unserer Identifikationen. Dazu ein Beispiel aus meinem eigenen Leben: Ich habe mich lange über Wilber-Kritik und Wilber- Kritiker aufgeregt. Das Thema hatte für mich eine »Ladung«, es war irritierend. Dahinter stand die unbewusste Identifikation, die ich sprachlich vielleicht mit »Ken Wilber hat recht« ausgedrückt hätte. Mit der Bewusstwerdung dieser Identifikation hatte ich noch diese Meinung, aber ich war nicht mehr damit identifiziert. Wilber- Kritik empfand ich danach nicht mehr als persönlischen Angriff, als »existentielle « (meine Ich-Identifikation betreffende) Bedrohung, gegen die ich mich wehren zu müssen glaubte. Ich kann nun Wilber-Kritik mit Abstand und Interesse betrachten und daraus lernen. Mit etwas Bereitschaft und Ãœbung lassen sich Identifikationen gut erkennen, sie sind als Unbewusstes relativ nahe und leicht zu übersetzen.

Das verdrängte Unbewusste

Beim verdrängten Unbewussten ist die Ãœbersetzung viel schwieriger und eine Kunst für sich. Was für einen Menschen (oder eine Gemeinschaft) einmal bewusst war, dann aber, vielleicht vor langer Zeit, verdrängt wurde, kann sich psychisch oder körperlich verstecken oder auf unterschiedlichste Weisen maskieren. Wer sieht, um ein einfaches Beispiel zu nehmen, einer Begegnung mit einem Monster in einem angsterfüllten Traum an, dass sich hinter der Angst eine verdrängte Wut verbirgt, die, nach außen projiziert, ein wütendes Monster erschafft, das einem Angst einjagt? Oder wer erkennt in einem körperlichen Symptom eine dazugehörige psychodynamische Komponente – falls es denn eine gibt, und ohne etwas hineinzuprojizieren? Die Praxis dieser Schattenarbeit besteht auch hier in der Achtsamkeit gegenüber Alltagsirritationen und Symptomen körperlicher oder psychischer Art (Wo ist Ladung? Wo werde ich oder werden wir getriggert?). Und dann beginnt das Abenteuer der Interpretationen, mit allen Möglichkeiten von Irrtum. Die vorrangige Psychodynamik besteht auch hier in Widerständen und Abwehrreaktionen gegenüber dem eigenen Schatten. Dies ist auch der Bereich der klassischen Psychotherapie.

Achtsamkeit


Psychologische Achtsamkeit, um diese Aspekte zusammenzufassen, besteht in der Achtsamkeit sowohl auf die Inhalte wie auch auf die Strukturen und die Dynamiken des Bewusstseins. Nimmt man noch die Naturwissenschaften hinzu, dann kommen physiologische und systemische Aspekte ins Spiel, wie am Beispiel der vier Quadranten erwähnt. Dehnt man den Erkenntnisbereich dann auch noch auf die Mystik aus, dann geht es auch darum, zum Seinsgrund zu erwachen, vor dessen Hintergrund und in dessen Licht alle Phänomene (nicht nur die psychologischer Art) erscheinen, verweilen und darin wieder verschwinden. All dies sind Aspekte einer integralen Psychologie, die den Menschen und seine Umwelt als ein Ganzes betrachtet.

Quelle: Juli-August 7-8/2013

integralesleben.org - aspekteeiner-integralen-psychologie

 [1] In seiner letzten Ausgabe vor der Jahrtausendwende veröffentlichte das Magazin FOCUS (Nr. 52-99) eine Umfrage unter Wissenschaftlern, wer ihrer Meinung nach zu den Top 50 Wissenschaftlern des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts gehört, und hat daraus eine Rangliste erstellt. Ordnet man die genannten Top 50 dieses Rankings nach Quadranten, dann sind 49 davon Wissenschaftler der rechtsseitigen Quadranten (von Naturwissenschaften wie Physik, Biologie, Chemie, Ökologie oder Systemtheorie), und nur ein einziger der Nominierten ist ein Forscher von Innerlichkeit (und Geisteswissenschaft): Sigmund Freud.

[2] Eine eindrucksvolle Studie dazu ist das Buch Zen, Nationalismus und Krieg, in dem der Autor Brian Victoria, der selber ein Zen-Priester ist, den japanischen Zen und Buddhismus der Jahre 1850 bis 1950 untersucht. Anhand von ausführlichen Zitaten von anerkannten Lehrer zeigt er, dass die Lehren dieser Zeit von einer nationalistischen und teilweise militaristischen Grundstruktur durchzogen waren, ohne dass dies den Lehrern bewusst war. Trotz ihrer hohen spirituellen Verwirklichung war ihnen das nicht bewusst, weil, so könnte man salopp formulieren, Entwicklungspsychologie nicht auf dem Lehrplan der Erleuchtung stand.