Der folgende Text ist der eines Manuskripts aus dem Jahr 1965 mit dem Titel „Some Beliefs on Man,
in Man, for Man“ von Erich Fromm, das er selbst nicht veröffentlicht hat.
Veröffentlicht in: Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden,
München (Deutsche VerlagsAnstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag)
1999, GA XI, S. 593596
Ich glaube, dass sich die Einheit des Menschen aus der Tatsache
ergibt, dass der Mensch ein sich seiner selbst bewusstes Leben ist.
Darin unterscheidet er sich von anderen Lebewesen. Der Mensch ist
sich seiner selbst bewusst: seiner Zukunft (das heißt der Tatsache,
dass er sterben muss), seiner Kleinheit und seiner Ohnmacht; er nimmt
die anderen als andere wahr; er lebt in der Natur und ist ihren
Gesetzen unterworfen, auch wenn er sie mit seinem Denken übersteigt.
Ich glaube, dass der Mensch das Ergebnis einer natürlichen
Evolution ist, die aus dem Konflikt entspringt, dass er in der Natur
gefangen und gleichzeitig von ihr getrennt ist, und aus dem
Bedürfnis, Einheit und Harmonie mit der Natur zu finden.
Ich glaube, dass die Natur des Menschen in einem Widerspruch zu
fassen ist, der in den Bedingungen der menschlichen Existenz wurzelt
und eine Suche nach Lösungen notwendig macht, die ihrerseits neue
Widersprüche und das Bedürfnis nach neuen Antworten erzeugen.
Ich glaube, dass jede Antwort, die auf diese Widersprüche gegeben
wird, die Voraussetzung erfüllt und dem Menschen hilft, sein Gefühl
des Abgetrenntseins zu überwinden und ein Gespür der Zustimmung,
der Einheit und der Zugehörigkeit zu erlangen.
Ich glaube, dass der Mensch bei jeder Antwort, die er auf diese
Widersprüche gibt, nur die Möglichkeit der Wahl hat, entweder
vorwärts oder rückwärts zu gehen. Diese Wahlmöglichkeiten, die
sich in bestimmten Handlungen manifestieren, sind die Wege, auf denen
wir in unserem Menschsein regredieren oder progredieren.
Ich glaube, dass der Mensch grundsätzlich die Wahl hat zwischen
Leben und Tod, zwischen Kreativität und destruktiver Gewalt,
zwischen Wirklichkeitssinn und Illusion, zwischen Objektivität und
Intoleranz, zwischen brüderlicher Unabhängigkeit und einer
Bezogenheit auf Grund von Über und Unterordnung
Ich glaube, dass man dem Leben die Bedeutung andauernder
Geburt und beständiger Entwicklung zuschreiben kann.
Ich glaube, dass man dem Tod die Bedeutung des Endes von Wachstum
und ständiger Wiederholung zuschreiben kann.
Ich glaube, dass der Mensch, der die regressive Antwort gibt,
dadurch Einheit zu finden versucht, dass er sich von der
unerträglichen Angst vor Einsamkeit und Unsicherheit zu befreien
versucht, indem er das, was ihn menschlich macht und zum Problem
wird, entstellt. Die regressive Orientierung entwickelt sich in drei
Erscheinungsweisen, die getrennt oder im Verbund.
Mit Nekrophilie meine ich die Liebe zu allem, was mit
Gewaltanwendung und Destruktivität zu tun hat; der Wunsch zu töten;
die Bewunderung von Macht; das Angezogensein von Totem, von
Selbstmord, von Sadismus; der Wunsch, Organisches mit Hilfe von
„Ordnungschaffen“ in Anorganisches zu verwandeln. Da dem
Nekrophilen die erforderlichen Eigenschaften für Kreatives abgehen,
ist es ihm in seiner Unfähigkeit ein Leichtes, zu zerstören, denn
für ihn dreht sich alles nur um Gewalt.
Mit Narzissmus meine ich, dass der Mensch aufhört, ein lebendiges
Interesse an der Außenwelt zu zeigen und eine starke Bindung an sich
selbst, an seine eigene Gruppe, an den eigenen Klan, die eigene
Religion, Nation, Rasse usw. entwickelt. Dabei kommt es zu
gravierenden Verzerrungen in seinem rationalen Urteilsvermögen. Ganz
allgemein entsteht das Bedürfnis nach narzisstischer Befriedigung,
wenn materielle und kulturelle Armut kompensiert werden muss.
Mit inzesthafter Symbiose meine ich die Tendenz, an die Mutter und
ihre Ersatzfiguren – das Blut, die Familie, den Stamm – gebunden
zu bleiben, der unerträglichen Bürde der Verantwortung, der
Freiheit und des Bewusstseins zu entfliehen und in einem Hort von
Sicherheit und Abhängigkeit Schutz und Liebe zu bekommen. Dafür
bezahlt der einzelne mit dem Ende seiner eigenen menschlichen
Entwicklung.
Ich glaube, dass der Mensch, der sich für das Vorwärtsgehen
entscheidet, eine neue Einheit finden kann, indem er alle seine
menschlichen Kräfte zur vollen Entfaltung bringt. Diese können sich
in drei Weisen entfalten und allein oder im Verbund in Erscheinung
treten: in der Biophilie, in der Liebe zur Menschheit und zur Natur
und in Unabhängigkeit und Freiheit.
Ich glaube, dass die Liebe sozusagen der „Hauptschlüssel“
ist, mit dem sich die Tore zum Wachstum des Menschen öffnen lassen.
Ich meine damit Liebe zu und Einssein mit jemand anderem oder etwas
außerhalb von mir selbst, wobei das Einssein besagt, dass man sich
auf andere bezieht und sich mit anderen eins fühlt, ohne damit sein
Gespür für die eigene Integrität und Unabhängigkeit einschränken
zu müssen. Liebe ist eine produktive Orientierung, zu deren Wesen es
gehört, dass folgende Merkmale gleichzeitig vorhanden sind: Man muss
sich für das, womit man eins werden will, interessieren, sich für
es verantwortlich fühlen, es achten und es verstehen.
Ich glaube, dass die Praxis der Liebe das menschlichste Tun ist,
das den Menschen ganz zum Menschen macht und ihm zur Freude am Leben
gegeben ist. Für diese Praxis der Liebe gilt aber – wie für die
Vernunftfähigkeit: Sie ist sinnlos, wenn sie nur halbherzig
vollzogen wird.
Ich glaube, dass man erst „frei von“ seinen inneren und/oder
äußeren Bindungen sein muss, um „frei zu“ etwas sein zu können:
zu schöpferischem, gestaltendem Tun, zu mehr Erkenntnis usw. Erst
dann ist man fähig, ein freies, tätiges, verantwortliches Wesen zu
sein.
Ich glaube, dass Freiheit die Fähigkeit ist, der Stimme der
Vernunft und des Wissens zu folgen und den Stimmen irrationaler
Leidenschaften zu widerstehen. Sie ist die Befreiung, die den
Menschen freispricht und ihm den Weg ebnet, seine eigenen
vernünftigen Fähigkeiten zu gebrauchen, die Welt in ihrer
Objektivität zu
verstehen und den Platz, den der Mensch darin einnimmt, zu
erkennen.
Ich glaube, dass der „Kampf für die Freiheit“ im allgemeinen
ausschließlich die Bedeutung hatte, gegen jene Autorität zu
kämpfen, die einem aufgedrängt wurde und deren Ziel es war, den
Willen des einzelnen zu brechen. Heute sollte der „Kampf für die
Freiheit“ bedeuten, dass wir uns einzeln und gemeinsam von jener
„Autorität“ befreien, der wir uns „freiwillig“ unterworfen
haben. Wir sollten uns von jenen inneren Mächten befreien, die uns
zu dieser Unterwerfung zwingen, weil wir unfähig sind, die Freiheit
zu ertragen.
Ich glaube, dass Freiheit keine konstante Wesenseigenschaft ist,
die wir haben oder auch nicht haben. Vermutlich gibt sie es in
Wirklichkeit nur als Akt unserer Selbstbefreiung, wenn wir von
unserer Freiheit, wählen zu können, Gebrauch machen. Jeder Schritt
im Leben, der den Grad der Reife des Menschen erhöht, erhöht auch
seine Fähigkeit, die freimachende Alternative zu wählen.
Ich glaube, dass die Wahlfreiheit nicht für alle Menschen in
jedem Augenblick in gleicher Weise gegeben ist. Wer ausschließlich
nekrophil, narzisstisch oder symbiotischinzestuös orientiert ist,
hat nur die „Wahl“, sich regressiv zu entscheiden. Der freie
Mensch, der von irrationalen Bindungen befreit ist, kann keine
regressive Wahl mehr treffen.
Ich glaube, dass es das Problem der Wahlfreiheit nur bei Menschen
mit gegenläufigen Orientierungen gibt, und dass diese Freiheit immer
stark von unbewussten Wünschen und von beschwichtigenden
Rationalisierungen bedingt wird.
Ich glaube, dass niemand seinen Nächsten dadurch „retten“
kann, dass er für ihn eine Entscheidung trifft. Die einzige Hilfe
besteht darin, dass er ihn in aller Aufrichtigkeit und Liebe sowie
ohne Sentimentalität und Illusionen auf mögliche Alternativen
hinweisen kann. Das erkennbare Bewusstwerden befreiender Alternativen
kann in einem Menschen alle seine verborgenen Energien wachrufen und
ihn auf den Weg bringen, auf dem er das Leben statt den Tod wählt.
Ich glaube, dass der Mensch die Gleichheit aller Menschen spüren
kann, wenn er sich ganz und gar zu erkennen versucht und dabei merkt,
dass er den anderen gleicht und er sich mit ihnen identifiziert.
Jeder einzelne Mensch trägt die Menschheit in sich. Die conditio
humana ist eine und für alle Menschen gleich trotz der
unübersehbaren Unterschiede bezüglich Intelligenz, Begabung,
Körpergröße, Hautfarbe usw.
Ich glaube, dass man an die Gleichheit der Menschen gerade deshalb
erinnern muss, weil damit ein Ende gemacht werden muss, dass der
Mensch ein Instrument des anderen wird.
Ich glaube, dass Brüderlichkeit die auf den Nächsten gerichtete
Liebe ist. Sie bleibt freilich eine Worthülse, solange nicht alle
inzesthaften Bindungen ausgemerzt sind, die den Menschen daran
hindern, über den „Bruder“ in objektiver Weise zu urteilen.
Ich glaube, dass der einzelne so lange nicht mit seiner Menschheit
in sich in engen Kontakt kommen kann, solange er sich nicht
anschickt, seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen, in
welcher Weise diese die Entwicklung seiner menschlichen Potentiale
fördert oder hemmt. Kommen ihm die Tabus, Restriktio
nen, entstellten Werte ganz „natürlich“ vor, dann ist dies
ein deutlicher Hinweis darauf, dass er keine wirkliche Kenntnis der
menschlichen Natur hat.
Ich glaube, dass die Gesellschaft in ihrer stimulierenden und
zugleich hemmenden Funktion schon immer in Konflikt mit dem
Menschsein ist. Erst wenn der Zweck der Gesellschaft mit der des
Menschseins identisch ist, wird die Gesellschaft aufhören, den
Menschen zu lähmen und sein Streben nach Herrschaft zu beflügeln.
Ich glaube, dass man auf eine gesunde und vernünftige
Gesellschaft hoffen kann und muss. Eine solche Gesellschaft fördert
die Fähigkeit des Menschen zur Nächstenliebe, zur Arbeit und zum
Gestalten, zur Entwicklung seiner Vernunft und zu einer objektiv
richtigen Selbstwahrnehmung, die in der Erfahrung seiner produktiven
Energie gründet.
Ich glaube, dass man für die breite Bevölkerung auf die
Wiedergewinnung psychischer Gesundheit hoffen kann und muss. Diese
zeichnet sich durch die Fähigkeit zur Liebe und zu schöpferischem
Tun aus, durch die Befreiung von inzesthaften Bindungen an den Klan
und an den Boden, durch ein Identitätserleben, bei dem der einzelne
sich als das Subjekt und den Vollzieher seiner eigenen Kräfte
erfährt, durch die Fähigkeit, sich von der Wirklichkeit innerhalb
und außerhalb von einem selbst berühren zu lassen und die
Entwicklung von Objektivität und Vernunft zu verwirklichen.
Ich glaube, dass in dem Maße, in dem unsere Welt verrückt und
unmenschlich zu werden scheint, eine immer größere Zahl von
Menschen die Notwendigkeit spürt, sich zusammenzutun und mit
Menschen zusammenzuarbeiten, die ihre Sorgen teilen.
Ich glaube, dass diese Menschen guten Willens nicht nur zu einer
menschlichen Deutung der Welt kommen sollten, sondern auch auf den
Weg hierzu verweisen und für eine mögliche Veränderung arbeiten
müssen. Eine Deutung ohne den Wunsch nach Veränderung ist nutzlos.
Eine Veränderung ohne vorausgehende Deutung ist blind.
Ich glaube, dass die Verwirklichung einer Welt möglich ist, in
der der Mensch viel sein kann, selbst wenn er wenig hat; in der der
vorherrschende Beweggrund seines Lebens nicht das Konsumieren ist; in
der der Mensch das erste und das letzte Ziel ist; in der der Mensch
den Weg finden kann, seinem Leben einen Sinn zu geben, und in der er
auch die Stärke finden kann, frei und illusionslos zu leben.