Text von Pietro Archiati.
In der Jugend beschenkt die Natur den Menschen mit einer Fülle
von Kräften, mit einem unbändigen Tatendrang. Beim Älterwerden,
beim allmählichen Schwinden der Jugendkraft darf sich der Mensch
eine Reife erringen, die wie eine zweite Jugend erlebt werden kann.
Warum ist es nicht möglich, Jugendkraft und Altersweisheit zusammen
zu erleben?
Wenn der junge Mensch zugleich weise wäre, könnte die
Weisheit seine Jugend verderben. Vor jeder Handlung würde er
tiefgründig über das Gute und das Böse nachdenken und
sicherheitshalber vielleicht gar nichts tun. Und wenn der
Weisegewordene alles in die Tat umsetzen könnte, was er sich zum
Wohl der Menschheit ausdenkt, blieben alle jungen Menschen ohne
Beschäftigung. Sie könnten gar nicht mit dem mithalten, was nicht
weniger kraftvoll, aber bei weitem weiser wäre als sie.
Parzival ist
der Mensch, für den die Welt des Geistes die wahre Wirklichkeit ist.
Er fühlt sich einsam mit Menschen, die nur die sinnliche Welt kennen
und sich in ihr jugendlich austoben. So muss er lernen: Was für den
Lebenslauf des Menschen gilt, das gilt auch für den Lebenslauf der
Menschheit, für die Kulturepochen, die einander ablösen.
Eine
materialistisch ausgerichtete Kultur kann nicht zugleich eine tief
spirituelle Kultur sein. Wer heute, im Zeitalter des Materialismus,
den Geist sucht, der wird sich einsam und heimatlos fühlen. Er wird
viel vom Schicksal Parzivals lernen können, wie es in diesen
Vorträgen geschildert wird. Er wird daraus Mut und Kraft schöpfen,
um seine Lebensaufgabe zu erfüllen.
Parzivals Heimatlosigkeit ergibt
sich aus der Tatsache, dass er ohne jede Berührung mit der äußeren
Welt, ohne jede Erfahrung des um ihn lebenden Christentums
aufgewachsen ist. Nach dem ersten Besuch auf der Gralsburg erfährt
er, dass er versäumt hat, nach dem Gralsgeheimnis zu fragen. Der
Heimatlose muss zum Fragenden, zum Suchenden werden.
Gerade weil
Parzival so gut wie nichts von der äußeren Welt empfangen hat, kann
er aus dem eigenen Inneren, aus der eigenen Freiheit heraus alle
Anregungen zum Handeln holen. Er kann innerlich immer freier werden,
weil er nur zu dem eine Antwort bekommt, wonach er aus innerstem
Drang heraus fragt, weil er nur das findet, was er mit allen Fasern
seiner Seele sucht.
Die Parzival-Sage erzählt weiter: Der zum
Fragenden gewordene Heimatlose muss das große Mitleid lernen, um
Gralskönig zu werden. Die Buddha-Frage nach dem Leiden der ganzen
Menschheit muss in ihm brennen. Er muss lernen, nicht nur das eigene
Leiden zu erleben, sondern das Leiden aller Menschen. Die Menschheit
als unteilbare Einheit soll immer inniger zur großen Liebe seines
Herzens werden, bis er sich nur glücklich fühlen kann, wenn
wirklich alle Menschen auf der Erde glücklich sind.
Für den
heutigen Leser stellt sich die Frage: Ist Parzival nicht eine Gestalt
der Vergangenheit, die heute nur unzeitgemäß anmuten kann?
Rudolf
Steiner hält diese Vorträge kurz vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkriegs. Hätte er nicht alle Gründe gehabt, seine Zuhörer auf
den Ernst der Weltlage hinzuweisen? Ist nicht die Betonung der
inneren Entwicklung eine Verführung zum Egoismus, zur
Gleichgültigkeit dem Schicksal der Mitmenschen gegenüber?
Geisteswissenschaft darf nicht zur Entfremdung von der Welt führen.
Und wo ist heute der heimatlose Mensch, der beim ersten Gralsbesuch
ausgestoßen wird, der erst auf seiner zweiten Gralssuche zum
Fragenden, zum Mitleidenden wird?
Darauf antwortet die Parzival-Sage:
Es gibt Legionen von Menschen, die unbewusst alles daran setzen, um
zu Parzival-Menschen zu werden, gerade weil sie, ohne es zu wissen,
tief darunter leiden, dass sie es noch nicht sind. Zahllos sind die
Menschen, die nur die sinnliche Welt kennen und an den Geist gar
nicht denken: Es sind dieselben Menschen, die nie zufrieden sind, die
unter Depressionen leiden und sich fragen, warum sie so viel leiden
müssen.
Da gibt es heute die vielen Menschen im Osten, etwa in der
Ostukraine, die in ihrem höheren Ich durch das Leiden die innere
Kraft erlangen möchten, für alle Menschen eine geistige Kultur
vorzubereiten, in der die Intelligenz spiritualisiert wird und der
Mensch den überall in der Welt wirksamen Geist zu lieben lernt.
Wie
heimatlos mag sich manch einer in den Tagen vor der Flucht gefühlt
haben, die er unter Beschuss im kalten Winter im Keller verbracht
hat, im Ringen mit der Frage: Sollen wir aufbrechen und uns auf die
Suche nach einer neuen Heimat begeben? Und noch heimatloser wird er
sich in den nie endenden Tagen auf der Flucht gefühlt haben, wo
alles noch ungewisser als daheim erschien.
Die Millionen von
Flüchtlingen auf der Erde, die neuen Heimatlosen, werden immer mehr. Die geistige Heimat, die sie suchen, ist überall für den, der sie
kennt, und nirgendwo für den, der sie nicht kennt. Wie sehr möchte
das höhere Ich eines jeden Flüchtlings ihm diese Vorträge auf den Weg mitgeben!
Aber er muss auf jene Freiheit des niederen Ich achten, das mit einem
Leben allein nicht genug haben kann, das die Kraft finden muss, das
große Suchen und das große Finden auf mehrere Leben zu verteilen.
Im selben Leben wäre weder das Suchen noch das Finden groß genug.
So ist in der Heimatlosigkeit auf der Erde nicht der Mensch einsam,
der nicht findet, sondern der Mensch, der nicht sucht. Auch das
Christentum wird erst esoterisch, wenn es die Tatsache der
wiederholten Erdenleben und des Karmas ernst nimmt.
Und wie ist es mit den unzähligen Menschen, die ihre Heimat in
Afrika verlassen und ein besseres Leben in Europa suchen? Wird es
nicht viele unter ihnen geben, die sich vor der Geburt zu einem Leben
in der Heimatlosigkeit entschieden haben, als karmischen Ausgleich
für ein früheres Leben, in dem die geistige Heimat nur vergessen
wurde?
Ist die Botschaft dieser Menschen, ist ihre Mahnung an uns
nicht willkommen, die wir uns durch unsere eigene Geistvergessenheit
vielleicht dazu vorbereiten, im nächsten Leben ihr Schicksal
nachzuahmen, um zu Suchenden nach dem Geist zu werden? Ist es nicht
das, was unsere Betroffenheit, was unser Unbehagen im Umgang mit
ihnen uns sagen will?
Die frohe Botschaft der Parzival-Sage macht uns
Mut, indem sie uns daran erinnert: Gemeinsam haben alle Menschen
überall auf der Erde ihre Heimat, wenn sie den Geist erkennen und
lieben, der die Wirklichkeit in aller sogenannter Materie ist.
Wer zur anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft gefunden
hat, der kann tief dankbar sein, zum Heiligen Gral der modernen
Menschheit gefunden zu haben. Im Laufe der Jahre kann aber gerade für
ihn die Sehnsucht groß werden, auch den zweiten Gralsbesuch hinter
sich zu bringen. Er möchte dann im Schnellverfahren, in einem
einzigen Leben, die Gralsburg endgültig einnehmen.
Er hat über
viele Jahre gelesen, er hat beharrlich meditiert, er hat seine
Übungen gemacht – aber niemals auch nur die kleinste Erfahrung der
geistigen Welt gehabt, nach der er sich so sehr gesehnt hatte. Und
nach einem unsanften Aufwachen im Alter scheint ihm das Angestrebte,
das Gesuchte in weite Ferne gerückt zu sein wie für Parzival die
Gralsburg nach seinem ersten Besuch. Eine tiefe Enttäuschung nagt im
Inneren, die in Resignation oder gar in Depression umzuschlagen
droht.
Gerade als reife Frucht eines jahrzehntelangen Strebens kann der
Mensch die Entscheidung treffen, sich auf die zweite Suche nach dem
Gral zu begeben. Er kann sich fragen: Wonach habe ich die ganze Zeit
gestrebt? Hat mich nicht die Sehnsucht getrieben, immer vollkommener
zu werden? War es nicht die eigene Entwicklung, die im Vordergrund
stand? Habe ich mich vielleicht nicht innig genug als ein Glied im
Organismus der Menschheit erlebt, das nicht mehr als sein eigener
Organismus gesund oder krank sein kann?
Der Mensch, der im Alter den
Mut findet, sein lebenslanges Streben nach dem Geist als ersten
Gralsbesuch zu betrachten, als Vorbereitung für die zweite, nie
endende Gralssuche, wird auch die Kraft finden können, wie Parzival
nach dem tiefsten Leiden im Herzen jedes Menschen zu fragen: «Oheim,
was wirret Dir? (was schmerzt dich?)». Der Heimatlose, «der reine
Tor», kann «durch Mitleid wissend» werden wie es in Richard
Wagners Parsifal heißt.
Der Text: www.rudolfsteinerausgaben.com - pdf
Der Autor: www.rudolfsteinerausgaben.com