Hesse: Menschlichkeit und Harmonie

Serie: „Selbstführung und Führung“, Teil 34 - von Prof. (em.) Dr. Heiner Müller-Merbach - QUELLE

Hermann Hesse (1877 – 1962) wird seit Jahren immer wieder als der im Ausland am meisten gelesene deutsche Schriftsteller genannt. Woher kommt das? Ist er ein Lehrmeister der Menschlichkeit, ein Vorbild an Harmonie, ein Maßstab für andere Menschen? Wohl kaum! Eher mag es daran liegen, dass er sich als Mensch mit seinen Stärken und Schwächen darstellt, ohne sie zu beschönigen, und dass er Ideen ausstrahlt in Richtung auf mehr Harmonie in dieser Welt. 

Aus seinen vielfältigen Werken ist im Suhrkamp-Verlag das Lesebuch „Die Einheit hinter den Gegensätzen“ (1986) zusammengestellt worden, aus dem hier im Folgenden überwiegend zitiert wird (auch schon bei Müller-Merbach 1987).

Zerrissenheit 

Hermann Hesse stellt sich selbst als einen Menschen dar, der zwischen verschiedenen psychischen Zuständen hin- und herschwankt, also nicht wie eine starre, unbewegliche Eiche, die sich von keinem Wind biegen lässt, sondern eher wie schwankender Bambus, der je nach Windeinfluss nach links, rechts, vorn oder hinten gebogen wird.

Ein Mensch wie Hermann Hesse ist Stimmungen unterworfen und steht nicht unbewegt wie ein Fels in der Brandung, wie etwa Marc Aurel (121 – 180), der Stoiker und römische Kaiser formuliert: „Der Klippe gleich sein, an der sich ständig die Wogen brechen. Sie aber steht unerschüttert, und die sie umtobende See sinkt in Schlummer.“

Hermann Hesse bekennt sich zu seinem Wankelmut: „Ach, und nun stand ich wieder einmal so völlig außerhalb der Einheit, war ein vereinzeltes, leidendes, hassendes, feindliches Ich. Auch andre waren das, gewiß, ich stand damit nicht allein, es gab eine Menge von Menschen, deren ganzes Leben ein Kampf, ein kriegerisches Sichbehaupten des Ich gegen die Umwelt war, welchen der Gedanke der Einheit, der Liebe, der Harmonie unbekannt war und fremd, töricht und schwächlich erschienen wäre, ja, die ganze praktische Durchschnittsreligion des modernen Menschen bestand in einem Verherrlichen des Ich und seines Kampfes. Aber in diesem Ichgefühl und Kampf sich wohlzufühlen, war nur den Naiven möglich, den starken, ungebrochenen Naturwesen; den Wissenden, den in Leiden sehend Gewordnen, den in Leiden differenziert Gewordnen war es verboten, in diesem Kampfe ihr Glück zu finden, ihnen war Glück nur denkbar im Hingeben des Ich, im Erleben der Einheit …“

Hermann Hesse geht es um das Zurechtfinden des Einzelnen in dieser Welt, nämlich um das Ich als Teil der Ganzheiten und um die Ganzheiten, in die man sich einfügen muss: „Ich glaube an nichts in der Welt so tief, keine andere Vorstellung ist mir so heilig wie die der Einheit, die Vorstellung, daß das Ganze der Welt eine göttliche Einheit ist und daß alles Leiden, alles Böse nur darin besteht, daß wir einzelne uns nicht mehr als unlösbare Teile des Ganzen empfinden, daß das Ich sich zu wichtig nimmt“.

Das Ich und die Gemeinschaften 

Jeder Mensch ist ein Teil von Gemeinschaften, etwa seiner Nationalität, seiner Rasse, seiner Religion, seines Staates, seines Bundeslandes, seiner Stadt, seiner Unternehmung, seiner Universität, seines Sportvereins usw. Überall muss er das Verhältnis zwischen sich selbst und dem jeweiligen Ganzen bestimmen. Wenn er sich selbst als unbedeutend empfindet, wird er zu einer grauen Maus in der Masse; wenn er sich selbst allerdings zu wichtig nimmt, wird er von der jeweiligen Gemeinschaft abgelehnt werden.

Jeder muss die Rolle des Ichs und seine Rolle als Teil der Gemeinschaft miteinander in Einklang bringen. Das lehrte schon Albert Schweitzer (1875 – 1965), der große Theologe, Arzt und Philosoph: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Das Geheimnisvolle meines Willens zum Leben ist, daß ich mich genötigt fühle, mich gegen allen Willen zum Leben, der neben dem meinen im Dasein ist, teilnahmsvoll zu verhalten. Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen“ (Schweitzer 1990, S. 38; Müller-Merbach 2012, S. 210).

Ähnlich äußert sich Hesse bezüglich der Zugehörigkeit zu Religionen. Die Einheit hinter den Gegensätzen drückt Hesse mit seinem zentralen Satz aus: „Der Inder sagt Atman, der Chinese sagt Tao, der Christ sagt Gnade“.

Gleichwohl will Hesse aus diesen Religionen keinen Einheitsbrei herstellen: „Daraus soll niemand schließen, Christentum und Maoismus, platonische Philosophie und Buddhismus seien nun zu vereinigen, oder es würde aus einem Zusammengießen aller durch Zeiten, Rassen, Klima, Geschichte getrennten Gedankenwelten sich eine Idealphilosophie ergeben. Der Christ sei Christ, der Chinese sei Chinese, und jeder wehre sich für seine Art, zu sein und zu denken … . Die Erkenntnis meiner Determiniertheit macht mich ja auch nicht frei! Wohl aber macht sie mich bescheiden, macht mich duldsam, macht mich gütig; denn sie nötigt mich, die Determiniertheit jedes anderen Wesens ebenfalls zu ahnen, zu achten und gelten zu lassen“.

Hesse ergänzt: „Mir sind alle Religionen der Welt teuer und ehrwürdig, weil sie alle die vielleicht edelste Fähigkeit des Menschen zur Quelle haben: die Ehrfurcht. Doch unterscheide ich trotzdem die Religionen nicht nur nach ihrem geistigen und kulturellen Niveau, sondern auch nach ihrer Toleranz. Und da gehört ja leider die christliche nicht zu den freundlichen, milden und toleranten, sondern zu den missionierenden, hochmütigen, alleinseligmachenden und gewalttätigen“.

Auch mahnt Hesse zum toleranten Nebeneinander: „Ich meinerseits glaube nicht, daß nicht zwei, oder sechs, oder zahllose Arten der Weltbetrachtung friedlich nebeneinander existieren können. Daß die Art, wie ein Mensch die Welt betrachtet, ein Kampfmittel sei und sein müsse, sehe ich nicht ein. Ich habe meinen Glauben, halb aus Herkunft, halb aus Erfahrung stammend, und er hindert mich nicht, Andersgläubige mit Achtung zu behandeln“.

Toleranz 

Eine solche Toleranz mag sogar unabhängig sein von den Fesseln einer konfessionellen Bindung und weltanschaulichen Festlegung. In diese Richtung zielt auch Albert Camus (1913 – 1960) mit den beiden Sätzen: „Die Welt verstehen heißt für einen Menschen: Sie auf das Menschliche zurückführen, ihr ein menschliches Siegel aufdrücken“, und: „Wichtig ist zunächst … zu wissen, wie man sich in der Welt, wie sie nun einmal ist, verhalten soll“.

Menschlichkeit kann unabhängig sein von konfessionellen Vorgaben. Oder worin unterscheiden sich christliche Menschlichkeit, jüdische Menschlichkeit, buddhistische Menschlichkeit, muslimische Menschlichkeit usw.? Darin besteht allgemein die Schwierigkeit: Für die eigene Überzeugung einzutreten, gleichzeitig die davon abweichenden Überzeugungen anderer gelten zu lassen. Liegen darin nicht die Quelle einer funktionierenden Demokratie, die Wurzel guter Führung, der Ausgangspunkt der überlegenen Leistungskraft? Das erfordert tiefe Einsicht und langes Training.

Hesse: „Daß Gut und Böse, Schön und Hässlich und alle Gegensatzpaare in eine Einheit aufllösbar sind, das ist eine esoterische, geheime, den Eingeweihten zugängliche (und auch ihnen oft wieder entgleitende) Wahrheit, aber nicht eine exoterische, allen verständliche und bekömmliche“.

Es geht also in jedem Leben um ein Einpendeln zwischen dem Ich und dem Selbstbewusstsein auf der einen Seite und der Gemeinschaft (bzw. vieler Gemeinschaften) sowie dem Gruppenbewusstsein auf der anderen Seite.

Von der Individualebene auf die Nationalebene 

Das lässt sich auch auf das Verhältnis von Gemeinschaften untereinander übertragen, z. B. auf das Verhältnis zwischen den EU-Staaten oder zwischen den Nationen unterschiedlicher Kontinente.

In guter Erinnerung habe ich noch meinen Klassen-, Deutsch-, Geschichts- und Englischlehrer Walter Wulf, der mich zum Abitur (1955) am Christianeum in Hamburg geführt hat. Er war ein überzeugter Europäer und kommentierte die histroische Situation oft pessimistisch: Europa käme ihm vor wie zwei zum Tode Verurteilte, von denen der eine dem anderen auf dem Weg zum Schafott noch sein Taschentuch klaute. Durch die gegenwärtige Euro-Krise erhält diese Einstellung Walter Wulfs eine neue Aktualität.

Ähnlich wie das o. g. Einpendeln zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Gruppenbewusstsein geht es auf der internationalen Ebene um ein Einpendeln zwischen dem Nationalbewusstsein und dem Weltbewusstsein, etwa in Anlehnung an Albert Schweitzer: "Ich bin Deutscher, der sich zu seinem Deutschsein bekennt, inmitten von Repräsentanten anderer Nationen, die sich zu ihrem Nationalgefühl bekennen; mein Nationalgefühl nötigt mich, mich gegenüber dem Nationalgefühl aller anderen teilnahmsvoll zu verhalten."

Das erinnert an Seneca (4 v. Chr. – 65), den römischen Staatsmann und Stoiker: „Keiner liebt sein Vaterland, weil es groß ist, sondern weil es das seine ist.“

Hätte ich ein fachübergreifendes bzw. fachunabhängiges Buch auszuwählen, welches an die Absolventen von Bildungsgängen als Belohnung und/oder Pflichtlektüre verteilt werden soll, wäre „Die Einheit hinter den Gegensätzen“ von Hermann Hesse meine allererste Wahl.

Literatur:

  • Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1957.
  • Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969. 
  • Hesse, Hermann: Die Einheit hinter den Gegensätzen, zusammengestellt von Volker Michels. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986.
  • Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Stuttgart: Kröner 1973.
  • Müller-Merbach, Heiner: Hermann Hesse: Die Einheit hinter den Gegensätzen, in: technologie & management, 36. Jg., 1987, H. 2, S. 50 – 51, nachgedruckt in: Müller- Merbach 1995, S. 98 – 106.
  • Müller-Merbach, Heiner: Philosophie- Splitter für das Management: 16 praktische Handreichungen für Führungskräfte, 3. Aufl . Bad Homburg v. d. H.: DIE 1995.
  • Müller-Merbach, Heiner: Humanität und Führung – Betriebswirtschaftslehre, dreige- teilt, in: Arbeit im Wandel, hrsg. von R. Bru- der und M. v. Hauff , Stuttgart: Ergonomie 2012, S. 203 – 215. 
  • Schweitzer, Albert: Worte über das Leben. Freiburg i. Br.: Herder 1990.


Autor:

Prof. (em.) Dr. Heiner Müller-Merbach, o. Prof. für Betriebswirtschaftslehre an der TU Kaiserslau- tern, ist seit langem ein begeisterter Leser von Hermann Hesse. Als er das akademische Jahr 1963/64 als Post- Doc an der University of California, Berkeley, verbrachte, nahmen ihn andere Post-Docs mit in die Kneipe „Steppenwolf“ (benannt nach der berühmten Erzählung von Hesse, die mit der Warnung „Nur für Verrückte“ beginnt).
Die Gäste dieser Gaststätte (schwarzlackierte Tische, keine Tischdecken, nur laute klassische Musik), waren schon auf den ersten Blick ungewöhnlich: Es sollen viele Mathematik-Professoren von Berkeley darunter gewesen sein. Man warnte mich, niemals allein dorthin zu gehen. Warum? Das seien alles reine Mathematiker, jeder mit einer Weltformel; wer sich allein hineinwagte, hätte bald einen Weltformel-Prediger am Hals, der einen zu bekeh- ren versuchte. Leider gibt es den „Steppenwolf“ auf der San Pablo Avenue in Berkeley seit langem nicht mehr.

Textquelle: www.vwi.org - Selbstfuehrung_und_Fuehrung-Teil34.pdf