Mit dem Fahrrad durch die U-Bahn

Es ist Anfang Mai. Die Stadt hat Fieber. Überall liegt Staub und in manchen Straßen riecht es nach süßem Abfall. Der Himmel ist so weiß wie im Hochsommer. An solchen Nachmittagen sollte man in klimatisierten Räumen arbeiten oder im Schatten eines Baumes im Biergarten sitzen. Doch in der Hitze des grellen Nachmittags treffen sich heute 25 Radfahrer mitten auf einer Kreuzung in Köln. Sie stehen am Eingang zur größten Baustelle der Kölner Verkehrs Betriebe.

Einer der Radler trägt ein saubere Jeans, ein weißes Hemd und eine eng gebundene Krawatte. Über dem Hemd trägt er eine Warnweste und auf dem Kopf einen Schutzhelm. Es ist Herr Heinrich, Bauingenieur und Projektleiter für den Tunnelbau der neuen Kölner U-Bahn. Die Anderen sind Gäste und Bürger der Stadt. Heute dürfen sie sich den neuen Tunnel der U-Bahn in Köln ansehen und mit dem Fahrrad dort fahren, wo bald Schienen liegen werden.


Noch hat es 29 Grad. Herr Heinrich kündigt an, dass es drinnen im Tunnel nur 17 Grad haben wird, wir also gut daran täten, eine Schicht mehr anzuziehen. Gesagt, getan. Dann geht es los. Als Erstes fahren wir durch die oberirdische Haltestelle Marktstraße, und zwar dort, wo die Bahn fahren würde. Aber die Haltestelle sieht nicht nach Zukunft aus. Sie wirkt alt und verlassen, obwohl sie noch nie in Betrieb war. Zwischen den Pflastersteinen wachsen Löwenzahn und Thymian. Warum hat man sie schon vor Jahren gebaut, lange vor Inbetriebnahme der Strecke? Hierüber kann auch Herr Heinrich nur den Kopf schütteln: „Manchmal entsteht Unsinniges.“

Über feste Erde holpern wir weiter bis wir Beton unter unseren Reifen spüren. Es geht bergab. Nach wenigen Metern verschluckt uns der Untergrund. Es wird sofort kalt und der Stadtlärm ist wie ausgeschaltet. Vor uns tut sich eine lange Röhre auf, dessen Ende nicht zu sehen ist. Sie ist modern und chic, grau und indirekt beleuchtet.

Sie wirkt wie eine Kulisse aus einem Science-Fiction Film, könnte ohne Weiteres den Gang eines Raumschiffes darstellen. Wir rollen hinein, werden schneller und sind schon in der ersten großen Halle, Haltestelle Karthäuserhof. Und schon hindurch, wieder im Tunnel. Nach kurzer Fahrt die nächste Haltestelle. Sie ist anders, keine Halle, sondern eng und einfach.
So geht es weiter, wir radeln dort, wo die Bahn fahren wird, von Haltestelle zu Haltestelle, unter den Chlodwigplatz, weiter bis zu Severinstraße. Immer in der Röhre der neuen U-bahn. Die Fahrt ist leicht, denn wir müssen uns kaum anstrengen. Herr Heinrich erklärt uns die Fahrdynamik: „Die Haltestellen sind so angelegt, dass die Bahn beim Bremsen bergauf rollt und beim Anfahren bergab – damit lässt sich enorm viel Energie sparen. Mit dem Rad entsteht so der Eindruck, fast nur bergab zu radeln.“

An der künftigen Haltestelle Severinstraße halten wir und schauen uns das Bauwerk genauer an. Dabei erfahren wir, dass jede Haltestelle ihren eigenen Architekt hat. Jeder Architekt darf nicht nur sein individuelles Design verwirklichen, er muss sich auch den lokalen Bedienungen anpassen: Gibt es viel Platz im Untergrund, wird eine kostengünstige große Halle gebaut, in der die Züge in der Mitte einfahren. Die Menschen steigen dann vom Rand her in die Bahnen ein. Gibt es nicht so viel Platz, weil oben Häuser stehen, muss die Röhre selbst die Haltestelle beinhalten. Dann steigen die Menschen auf einer Plattform zwischen den Röhren ein, oder stehen auf engen Rampen direkt im Tunnel bei der Bahn. Auch bereits bestehende Haltestellen unterscheiden sich dahingehend grundlegend voneinander.

Bei uns im Untergrund ist noch alles roh und dreckig. Riesig hohe Lichtschächte lassen zwar Licht herein, doch Treppenhäuser und Säulen sind kahl und düster. Überall liegen Kabel und Eisenteile herum. Bauarbeiter hämmern und sägen. Aus Löchern in der Wand schauen Drähte, die mit bunten Schildchen nummeriert sind. Wo sie wohl hinführen? Die Baustelle macht es uns schwierig, sich vorzustellen, wie hier in Zukunft täglich tausende von Menschen zur Arbeit fahren oder vom Einkauf nach Hause kommen. Noch ist man mit sauberer Kleidung total fehl am Platz.

Für den Durchtrieb der Röhren,“ erklärt uns Herr Heinrich, „hat man den modernsten Bohrer der Welt verwendet.“ Und damit das Erdreich beim Bohren nicht einstürzt, wurde zuerst alles Vereist. Mit gigantischem Energieaufwand wurde jeder Kubikmeter Erde auf Minus 17 Grad gekühlt und anschließend durchbohrt. Da Eis ein größeres Volumen hat als Wasser, kam es oft zu oberirdischen Hebungen, die auf den Millimeter genau kontrolliert werden mussten. Schon kleine Risse lassen Leitungen platzen oder Gebäude einstürzen.

Einmal ging alles schief: Das Stadtarchiv stürzte ein. Doch den aktuellen Erkenntnissen nach beruht dieser Unfall nicht auf Fehlern der Ingenieure sondern auf Fahrlässigkeit und dem Betrug einzelner Personen. Der Zusammenbruch des Stadtarchivs kostete zwei Menschen das Leben, zerstörte historische Dokumente und verlängerte die Bauzeit der U-Bahnlinie um einige Jahre.

Wer draußen am Loch des Stadtarchivs stehen bleibt, sieht zwei weiße Schornsteine, aus denen es oben herausdampft. Die seltsam weich wirkende Umkleidung der Metallrohre ist Eis. Der Dampf ist kalter Hauch. Damit nämlich nicht noch mehr Gebäude in das Loch stürzen, muss der Bereich vereist bleiebn. Eine andere, weniger energieaufwändige Lösung ist geplant.
Nach zwei Stunden unter Kölns Innenstadt radeln wir wieder ans Tageslicht zurück. Die drückende Hitze hat uns wieder und das Erlebte erscheint plötzlich wie ein Traum, aus dem man schlagartig erwacht. Der Lärm ist wieder da. Die Augen kneifen wir zu. Sie müssen sich erst wieder an diese Welt gewöhnen. Waren wir gerade wirklich dort in der Erde? Oft sind andere Welten wohl nur einen Schritt entfernt. Aber nur manchmal darf man eintreten.