Erkenntnisse und Konsequenzen für das Gelingen von Bildungsprozessen aus der Hirnforschung von Gerald Hüter, Göttingen 2008
Die Zukunft unseres Landes wird von den Kindern gestaltet, die heute heranwachsen. Wollen wir keine Bruchlandung erleiden, müssen wir sie auf die Herausforderungen vorbereiten, die auf sie zukommen und denen wir schon jetzt gegenüberstehen. Wir müssen Ihnen das nötige Rüstzeug zur Bewältigung dieser Aufgaben mit auf den Weg geben.
Das wichtigste, was Ihnen helfen wird, diesen Herausforderungen gewachsen zu sein, ist nicht mehr allein ihr Wissen – das kann künftig jederzeit verfügbar gemacht und abgerufen werden – sondern vielmehr ihre Bildung, also die Fähigkeit, sich das vorhandene Wissen nutzbar zu machen, es zu beurteilen, zu verstehen, anzuwenden und dadurch wieder neues Wissen hervorzubringen. Und diese Bildung beginnt nicht erst in der Schule, sondern bereits im Kindergarten, in Kindergrippen und den jeweiligen Herkunftsfamilien.
In der alten Industriegesellschaft des vorigen Jahrhunderts sollten die Menschen das in der Schule erworbene Wissen ein ganzes Leben lang anwenden. Deshalb brauchten sie gut eingeprägtes Fachwissen und solide Kenntnisse, auf die sie zeitlebens zurückgreifen konnten. In der Wissens- und Ideengesellschaft des 21. Jahrhunderts hat sich dieser Wissenspool enorm erweitert. Jetzt kommt es immer stärker darauf an, neue Herausforderungen annehmen und unbekannte Probleme lösen zu können. Die Schule wird ihre Schüler daher künftig nicht nur auf die Durchführung von Routinen, sondern in erster Linie auf die Bewältigung von Vielheit und Offenheit vorbereiten müssen. Damit ändert sich aber schlagartig auch die traditionelle Vorstellung von Bildung und Erziehung.
Überall dort, wo Bildung stattfindet, geht es nun viel stärker um die Aneignung sogenannter Metakompetenzen, um die Entwicklung von Haltungen und Einstellungen, um die Bereitschaft, sich auf neue Herausforderungen einzulassen, um die Lust am Entdecken und Gestalten, um Engagement, Teamfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft.
„Die Zeit ruft nach Persönlichkeiten, aber sie wird solange vergeblich rufen, bis wir die Kinder als Persönlichkeiten leben und lernen lassen, ihnen gestatten, einen eigenen Willen zu haben, ihre eigenen Gedanken zu denken, sich eigene Kenntnisse zu erarbeiten, sich eigene Urteile zu bilden; bis wir, mit einem Wort, aufhören, in den Schulen die Rohstoffe der Persönlichkeit zu ersticken, denen wir dann vergebens im Leben zu begegnen hoffen.“ (Ellen Key, schwedische Reformpädagogin, 1900).
Und genau hier, bei der Suche nach Lösungen, wie sich diese Forderungen in unserem gegenwärtigen Bildungssystem umsetzen lassen, bekommen diese Bemühungen plötzlich Schützenhilfe und eine enorme Bestätigung ihres Ansatzes von einer Disziplin, der man das eigentlich kaum zugetraut hätte: der Neurobiologie.
Die Hirnforscher haben in den letzten 10 Jahren eine Vielzahl von Erkenntnissen darüber zutage gefördert, wie das Lernen funktioniert, unter welchen Voraussetzungen Bildungsprozesse gelingen können und unter welchen sie scheitern, unter welchen Bedingungen Kinder ihre Lust am Lernen, am Entdecken und am Gestalten entfalten können und unter welchen sie ihnen vergeht.
Die Grunderkenntnis der modernen Neurobiologie heißt: Kinder, und zwar alle Kinder, kommen mit einer unglaublichen Lust am eigenen Entdecken und Gestalten zur Welt. Nie wieder ist ein Mensch so neugierig und so entdeckerfreudig und so gestaltungslustig und so begeistert darauf, das Leben kennen zu lernen, wie am Anfang seines Lebens.
Diese Begeisterungsfähigkeit, diese enorme Lernlust und diese unglaubliche Offenheit der Kinder sind der eigentliche Schatz der frühen Kindheit. Und diesen Schatz müssen wir besser als bisher bewahren und hegen. Es geht also weniger darum, mit Hilfe von Förderprogrammen Kindern immer schneller immer mehr Wissen beizubringen. Was wir brauchen sind Programme, die verhindern, was viel zu häufig heute noch immer passiert, nämlich dass Kinder irgendwann die Lust am Lernen verlieren.
Die Frage unter welchen Bedingungen Kinder ihre intrinsische Lust am Lernen und Gestalten weiter entwickeln und zu starken, verantwortungsbewussten und teamfähigen Persönlichkeiten heranreifen können, läßt sich inzwischen aus neurowissenschaftlicher Sicht recht gut beantworten. Interessanter Weise bestätigen die Hirnforscher mit ihren neuen Erkenntnissen vieles von dem, was von vielen Erziehern und Pädagogen seit je her eingefordert und in erfolgreichen innovativen Bildungseinrichtungen längst umgesetzt worden ist:
Anstelle der bisherigen extrinsischen Verfahren zur Verbesserung der Lernleistungen müssen Bedingungen, also Erfahrungs- und Gestaltungsräume, ge chaffen werden, die die intrinsische Motivation der Kinder zum Lernen und Gestalten, zum Mitdenken und Mitgestalten wecken und stärken. Allerorten wird eine Erhöhung der Qualität von Bildungsmaßnahmen gefordert und angestrebt. Die konkrete Gestaltung von Bildungsangeboten, die Art der Wissensermittlung, die Didaktik und Methodik des Unterrichtens kann auf eine Vielzahl von sehr gut validierten und bewährten Verfahren zurückgreifen. Viele diese Verfahren sind auch aus neurobiologischer Perspektive sinnvoll und begründbar.
Doch bevor man an Einzelmaßnahmen geht, um die Qualität von Bildungsangeboten zu erhöhen, sind folgende „hirngerechte“ Voraussetzungen für gelingende Bildung grundsätzlich voranzustellen: „Hirngerecht “ sind Bildungsangebote für Kinder (wie auch für Jugendliche und Erwachsene) immer dann,
1) wenn sie „Sinn machen“, d. h. bedeutsam und wichtig für das betreffende Kind sind, sei es auch nur, dass sich jemand über das, was das Kind gelernt hat, aufrichtig freut.
2) wenn sie als eigene Erfahrung am ganzen Körper, mit allen Sinnen und unter emotionaler Beteiligung erfahren werden, wenn sie also „unter die Haut“ gehen.
3) wenn die so gewonnenen Einsichten, Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten sich im praktischen Lebensvollzug als nützlich und vorteilhaft, d.h. praktisch anwendbar erweisen, auch und gerade außerhalb von Kindergarten und Schule.
Aber selbst dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wenn das neue Wissen und Können also bedeutsam, anknüpfbar, ganzheitlich und emotional erfahrbar und als praktisch nutzbar erkannt und erlebt werden kann, wird die Frage der Qualität, der Didaktik und Methodik der Wissensvermittlung erst dann interessant, wenn die Kinder auch offen für diese Bildungsangebote sind. Kinder brauchen also nicht nur Aufgaben, an denen sie wachsen können, und Herausforderungen, die sie zu bewältigen lernen, sie brauchen auch Rahmenbedingungen, die es ihnen ermöglichen, sich diesen Aufgaben zu stellen und diese Herausforderungen anzunehmen.
„Die Pflanzen wachsen nicht schneller, wenn man daran zieht“, lautet eine alte Gärtnerweisheit, die nun ebenfalls durch die Befunde der Entwicklungsneurobiologen bestätigt wird. Die kleinen Pflänzchen muss man gießen, gelegentlich düngen und auch einigermaßen von Unkraut freihält en, damit sie optimal gedeihen können. Auf unsere Kinder bezogen heißt das, wir brauchen eine neue Kultur in unseren Bildungseinrichtungen, eine Kultur der Wertschätzung, der Anerkennung, der Ermutigung und der gemeinsamen Anstrengung.
„Supporte leadership“ heißt dieses neue Modell in der Wirtschaft. Und überall dort, wo diese wertschätzende, unterstützende und gleichzeitig zu Höchstleistungen ermutigende und anspornende Beziehungskultur entwickelt wird, sprechen die Erfolge für sich. Der umgekehrte Weg eines überhöhten Leistungsdruckes, einer rein an vermeintlicher Effizienz ausgerichteten Betreuung und Verwaltung der Kinder hat aus neurowissenschaftlicher Sicht fatale langfristige Konsequenzen:
Die unter solchen Bedingungen erworbenen Erkenntnisse und Fertigkeiten werden mit den in der betroffenen Situation erlebten negativen Gefühlen von Angst, Verunsicherung, Abwertung und Ohnmacht verkoppelt. Diese Koppelungsphänomene haben zwangsläufig zur Folge, dass nicht nur die jeweilige Tätigkeit (also das Lernen und Üben), sondern auch der Ort (also der Kinder garten oder die Schule) und sogar die betreffende Person (die Erzieherin oder der Lehrer) fortan „angstbesetzt“ wahrgenommen und bewertet werden.
Das freilich sind die schlechtesten Voraussetzungen für die weitere Entfaltung von Offenheit, Interesse und Kreativität in der betreffenden Bildungseinrichtung. Aus der Stressforschung ist hinreichend bekannt, was die Entstehung und Ausbreitung von Angst verhindert: Vertrauen.
Damit Bildung aus neurowissenschaftlicher Sicht gelingen kann, müssten die Bildungseinrichtungen also zu Orten w rden, und die Erzieher Innen und LehrerInnen Beziehungspersonen sein, die die Kinder gern aufsuchen, wo sie sich sicher und geborgen, unterstützt und gewertschätzt und natürlich maximal gefordert und optimal gefördert fühlen. Entscheidend ist dabei – auch das ist eine wichtige neue Erkenntnis der Hirnforschung – immer die subjektive Bewertung.
Das eigene Gefühl des Kindes, nicht die objektiv herrschenden Umstände oder die behördlich geregelten Verhältnisse ist ausschlaggebend dafür, ob ein Kind seine Potentiale entfalten kann oder ob es sie aus Angst unterdrücken muss. Aber allein dadurch, dass anstelle der bisher vorherrschenden Angst sich mehr Vertrauen in unseren Bildungseinrichtungen ausbreitet, gelingt noch immer keine Bildung.
Kinder brauchen auch Vorbilder, denen sie nacheifern und Ziele, für deren Erreichen es sich anzustrengen lohnt. Und sie brauchen irgendwann auch Visionen davon, wie ihr Leben gelingen kann. Was also in unseren Bildungseinrichtungen geweckt werden müßte, ist das, was schon Saint-Exupery so eindringlich eingefordert hat: „Willst Du ein Schiff bauen, rufe nicht die Menschen zusammen, um Pläne zu machen, die Arbeit zu verteilen, Werkzeug zu holen und Holz zu schlagen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen, endlosen Meer.“
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