Auszüge aus
Utopische Gedanken über Liebe, Ehe und Eifersucht sowie über Frieden und Krieg
von August E. Hohler:
Diese Sekunden der Zärtlichkeit, wortlos, denn da war nichts zu sagen, unsere Körper sagten alles (und unser Körper, wenn wir ihn gewähren lassen, weiss Bescheid), diese paar stummen Sekunden wogen oder hoben Jahre und Jahrzehnte fruchtloser Streitereien auf, wie sie zwischen, sagen wir, konservativen Eltern und abtrünnigen Kindern seit je üblich sind; diese Augenblicke der Zärtlichkeit räumten weg, was uns trennte, und legten frei, was verstellt auch immer dagesessen war: Liebe, Dankbarkeit, Einverständnis, Wärme. Schmelzprozess im Tiegel des Lebens, unvergesslich.
Was machen Verliebte? Genau das gleiche. Der umbeschreibbare Moment, in dem zwei Menschen einander erkennen und zu Verliebten, Geliebten werden, verwandelt diese Menschen in eigentümlicher und gewissermassen eintöniger Weise: plötzlich haben sie ein unbezähmbares Bedürfnis, einander zu halten, einander in die Augen zu blicken, einander alles mitzuteilen. Verliebtheit als Dammbruch, der die Grenzen meiner Individualität überspült und dessen einströmende Wasser mich lebendig, empfänglich, aber auch wehrlos machen; das Bedürfnis nach Nähe, wechselseitiger Annahme und Bestätigung, nach Vereinigung, Einswerdung, Verschmelzung als natürliche Folge. Einander halten, Halt geben in der Wehrlosigkeit des Dammbruchs.
Tiefer ist die Einsicht, dass ich einen geliebten Menschen am besten „halte“, wenn ich ihn „loslasse“, dass wechselseitige Freiheit die verlässlichste Gewähr für wirkliche Verbundenheit bietet, die einzige: indem wir einander Entscheidungsmöglichkeiten zubilligen, können wir aus eigenem Antrieb zusammenbleiben oder zurückkehren. Das schreibt sich leicht, ist hart zu glauben und schwer zu praktizieren. Nicht das Loslassen, sondern das Festhalten haben wir gelernt, nicht die Lässigkeit, sondern den Krampf. Und doch ist das Loslassen, wie ja der Ausdruck sagt, das Ende einer Anstrengung und macht Energien frei, die im Festhalten blockiert sind: macht meine Hände frei. Einander halten in Zärtlichkeit, einander lassen in Freiheit: wie geht das zusammen?
Gibt es einen anderen, weiteren, tieferen Begriff von Treue? Ich glaube schon. Nicht die Sexualität wäre dann das Kriterium, sondern das Vertrauen, das aus Zärtlichkeit und Freiheit wächst; einander zärtlich halten, einander freilassen: das ist die Voraussetzung, um zueinander zu halten in einer Treue, Verbundenheit und Verlässlichkeit, die Stürme und Schmerzen überdauert und vielleicht sogar sich freuen kann an der Liebesfreude des andern. Wenn wir aufhören, einander zu gehören, können wir besser zueinander gehören. Und wenn wir aufhören, die Sexualität so entsetzlich wichtig zu nehmen, kann sie schöner werden und das Problem der Treue entschärfen.
Wenn wir einander halten in Zärtlichkeit, einander lassen in Freiheit; wenn wir Treue nicht mehr vom Sexuellen her definieren, sondern als ein verlässliches Zueinandergehören in Zärtlichkeit und Freiheit verstehen; wenn Sexualität weniger wichtig und dafür schöner, selbstverständlicher wird, weniger mit Eroberung und Besitz zu tun hat als Ausdruck der Lebensfreude ist: liegen dann die Qualen der Eifersucht hinter mir? Theoretisch ja; vielleicht; nicht unbedingt; möglicherweise überhaupt nicht.
Am Tag, an dem die Mehrheit der Menschen erkannt hat, dass es natürlicher ist, wenn wir einander lieben, als wenn wir es nicht tun oder einander hassen, an dem Tage wird die Welt, falls sie noch steht, gerettet sein.
TEXT: Zärtlichkeit und Treue von August E. Hohler
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