Lieber Freund, in Gedanken an dich las ich in einem Buch von Richard Rohr folgendes:
„Religion ist weithin von Menschen bevölkert, die Angst vor der Hölle haben; Spiritualität beginnt erst für diejenigen ihren Sinn zu entfalten, die durch die Hölle durchgegangen sind, das heißt, die den vollen Becher der Schwierigkeiten des Lebens getrunken haben.“
„Jesus kam als das Opfer der Menschheitsgeschichte, weil, spirituell gesprochen, nur ein Opfer sowohl die dunklen als auch die hellen Seiten dieser Geschichte aufzeigen kann. Das Opfer weiß, worin der wahre Sieg besteht und wofür die Insider wirklich stehen. Warum sonst hätte Jesus etwas so Abwegiges sagen können wie: „Glücklich seid ihr, wenn euch die Menschen misshandeln und verfolgen und ihr auf alle möglichen Weisen verleumdet werdet.“ (Matthäus 5,11)
Das heißt nicht, dass erleuchtete Menschen auf jeden Fall abgelehnt werden müssten, aber wahr ist, dass verletzte und abgelehnte Menschen eine viel größere Chance haben, klarer zu sehen und etwas Wichtiges sagen können (allerdings auch eine größerer Chance haben, zu verbittern!) Jesus schickt seine Nachfolger immer noch in diese Richtung, denn Weisheit erwächst aus dem, was ein Mensch aus seinem Schmerz macht! Der Ort des Leidens eröffnet eine einzigartige und unerlässliche Perspektive. Dichtern, Künstlern und Sehern war das schon immer klar.“
Auch Martin Spura bringt es auf den Punkt:
„Nur der darf sich zu Licht, Hoffnung und geistigen Welten emporschwingen, der vorher seine „dunklen Ecken“ konfrontiert hat, seine Schattenseiten, Eitelkeiten, Feinheiten, auch die Verlockungen seiner wilden in archaische Bereiche reichenden Triebnatur.“
„Die archaische Kraft ist kein Dämon, den es abzuschütteln gilt, er ist ein Keim, der zum Edelstein hin entfaltet werden will.“
„Das Wärmelicht des Sterns findet uns nicht, wenn wir uns selbst immerzu ins Licht stellen, es findet uns nur dann, wenn wir uns in die Nacht wagen, damit auch in der abgelehnten Finsternis ein Licht der Liebe scheint. Nur indem wir das Abgespaltene heimholen, zurück in unser Herz, können wir heil und ganz werden.“
Mit anderen Worten:
„Nach alter tantrischer Anschauung ist das, wodurch wir fallen, zugleich auch das Mittel, durch das wir uns wieder erheben können.“
„Immer wenn wir körperlichen und seelischen Konflikten unterliegen, sollten wir unsere Bewusstheit auf sie richten, sie sogar noch zu steigern versuchen und schließlich mitten in sie hineingehen.“
Mein lieber Freund, du sagtest es neben mir mit Bier im Kopf: Du willst, dass es mir gut geht. OK, sage ich. Wenn du das ehrlich willst, dann kümmere dich um dich selbst! Mit einem Freund, der für sich sorgen kann, geht es mir gut. Alles Oberflächliche „gut gehen“ geht mir am… you know? Setz dich all dem, was du gerade durchmachst, auseinander – in all seiner Heftigkeit. Konfrontiere dich. Gehe rein – und durch. Sonst wird es zu Ballast.
Der Kapitalismus verkauft uns die Illusion, dass wir das Übel wegschieben können. Die aufgewachten Menschen erinnern uns daran, dass wir das Übel integrieren müssen, dass wir es nicht überspringen können, sondern durchleben müssen – um hinterher frei, stark und selbstständig zu sein. Ich tue es. Ich bemühe mich. Andere auch. Du hast Reisegefährten auf deiner persönlichen Heldenreise. Und du willst doch der Welt etwas ganz und gar Positives schenken können, oder?
Liebe Grüße Dein Freund