Die Erkenntnis der in diesem Buche [Theosophie] gemeinten Geisteswissenschaft
kann jeder Mensch sich selbst erwerben. Ausführungen von der Art,
wie sie in dieser Schrift gegeben werden, liefern ein Gedankenbild
der höheren Welten. Und sie sind in einer gewissen Beziehung der
erste Schritt zur eigenen Anschauung. Denn der Mensch ist ein
Gedankenwesen. Und er kann seinen Erkenntnispfad nur finden, wenn er
vom Denken ausgeht.
Wird seinem Verstande ein Bild der höheren
Welten gegeben, so ist dieses für ihn nicht unfruchtbar, auch wenn
es vorläufig gleichsam nur eine Erzählung von höheren Tatsachen
ist, in die er durch eigene Anschauung noch keinen Einblick hat. Denn
die Gedanken, die ihm gegeben werden, stellen selbst eine Kraft dar,
welche in seiner Gedankenwelt weiter wirkt. Diese Kraft wird in ihm
tätig sein; sie wird schlummernde Anlagen wecken.
Wer der Meinung
ist, die Hingabe an ein solches Gedankenbild sei überflüssig, der
ist im Irrtum. Denn er sieht in dem Gedanken nur das Wesenlose,
Abstrakte. Dem Gedanken liegt aber eine lebendige Kraft zugrunde. Und
wie er bei demjenigen, der Erkenntnis hat, als ein unmittelbarer
Ausdruck vorhanden ist dessen, was im Geiste geschaut wird, so wirkt
die Mitteilung dieses Ausdrucks in dem, welchem er mitgeteilt wird,
als Keim, der die Erkenntnisfrucht aus sich erzeugt.
Wer sich behufs
höherer Erkenntnis, unter Verschmähung der Gedankenarbeit, an
andere Kräfte im Menschen wenden wollte, der berücksichtigt nicht,
dass das Denken eben die höchste der Fähigkeiten ist, die der
Mensch in der Sinnenwelt besitzt. Wer also fragt: wie gewinne ich
selbst die höheren Erkenntnisse der Geisteswissen schaft? dem ist
zu sagen: unterrichte dich zunächst durch die Mitteilungen anderer
von solchen Erkenntnissen. Und wenn er erwidert: ich will selbst
sehen; ich will nichts wissen vondem, was andere gesehen haben, so
ist ihm zu antworten: eben in der Aneignung der Mitteilungen anderer
liegt die erste Stufe zur eigenen Erkenntnis.
Man kann dazu sagen: da
bin ich ja zunächst zum blinden Glauben gezwungen. Doch es handelt
sich ja bei einer Mitteilung nicht um Glauben oder Unglauben, so
dern lediglich um eine unbefangene Aufnahme dessen, was man vernimmt.
Der wahre Geistesforscher spricht niemals mit der Erwartung, dass ihm
blinder Glaube entgegengebracht werde. Er meint immer nur: dies habe
ich erlebt in den geistigen Gebieten des Daseins, und ich erzähle
von diesen meinen Erlebnissen. Aber er weiß auch, dass die
Entgegennahme dieser seiner Erlebnisse und die Durchdringung der
Gedanken des andern mit der Erzählung für diesen andern lebendige
Kräfte sind, um sich geistig zu entwickeln.
Was hier in Betracht
kommt, wird richtig nur derjenige an schauen, der bedenkt, wie alles
Wissen von seelischen und geistigen Welten in den Untergründen der
menschlichen Seele ruht. Man kann es durch den «Erkenntnispfad»
heraufholen. «Einsehen» kann man nicht nur das, was man selbst,
sondern auch, was ein anderer aus den Seelengründen heraufgeholt
hat. Selbst dann, wenn man selbst noch gar keine Veranstaltungen zum
Betreten des Erkenntnispfades gemacht bat.
Eine richtige geistige
Einsicht erweckt in dem nicht durch Vorurteile getrübten Gemüt die
Kraft des Verständnisses. Das unbewusste Wissen schlägt der von
andern gefundenen geistigen Tatsache entgegen. Und dieses
Entgegenschlagen ist nicht blinder Glaube, sondern rechtes Wirken des
gesunden Menschenverstandes. In diesem gesunden Begreifen sollte man
einen weit besseren Ausgangsort auch zum Selbsterkennen der Geistwelt
sehen als in den zweifelhaften mystischen «Versenkungen» und
dergleichen, in denen man oft etwas Besseres zu haben glaubt als in
dem, was der gesunde Menschenverstand anerkennen kann, wenn es ihm
von echter geistiger Forschung entgegengebracht wird.
Man kann gar
nicht stark genug betonen, wie notwendig es ist, dass derjenige die
ernste Gedankenarbeit auf sich nehme, der seine höheren
Erkenntnisfähigkeiten ausbilden will. Diese Be tonung muss um so
dringlicher sein, als viele Menschen, welche zum «Seher» werden
wollen, diese ernste, entsagungsvolle Gedankenarbeit geradezu
geringachten. Sie sagen, das «Denken» kann mir doch nichts helfen;
es kommt auf die «Empfindung», das «Gefühl» oder ähnliches an.
Demgegenüber muss gesagt werden, dass niemand im höheren Sinne (das
heißt wahrhaft) ein «Seher» werden kann, der nicht vorher sich in
das Gedankenleben eingearbeitet hat. Es spielt da bei vielen
Personen eine gewisse innere Bequemlichkeit eine missliche Rolle. Sie
werden sich dieser Bequemlichkeit nicht bewusst, weil sie sich in
eine Verachtung des «abstrakten Denkens», des «müßigen Spekulierens»und so weiter kleidet.
Aber man verkennt eben das Denken, wenn
man es mit dem Ausspinnen müßiger, abstrakter Gedankenfolgen
verwechselt. Dieses «abstrakte Denken» kann die übersinnliche
Erkenntnis leicht ertöten; das lebensvolle Denken kann ihr zur
Grundlage werden. Es wäre allerdings viel bequemer, wenn man zu der
höheren Sehergabe unter Vermeidung der Gedankenarbeit kommen
könnte. Das möchten eben viele.
Es ist aber dazu eine innere
Festigkeit, eine seelische Sicherheit nötig, zu der nur das Denken
führen kann. Sonst kommt doch nur ein wesenloses Hin- und Herflackern
in Bildern, ein verwirrendes Seelenspiel zustande, das zwar manchem
Lust macht, das aber mit einem wirklichen Eindringen in höhere
Welten nichts zu tun hat. Wenn man ferner bedenkt, welche rein
geistigen Erlebnisse in einem Menschen vor sich gehen, der wirklich
die höhere Welt betritt, dann wird man auch begreifen, dass die
Sache noch eine andere Seite hat. Zum «Seher» gehört absolute
Gesundheit des Seelenlebens.
Es gibt nun keine bessere Pflege dieser
Gesundheit als das echte Denken. Ja, es kann diese Gesundheit
ernstlich leiden, wenn die Übungen zur höheren Entwicklung nicht
auf dem Denken aufgebaut sind. So wahr es ist, dass einen gesund und
richtig denkenden Menschen die Sehergabe noch gesunder, noch
tüchtiger zum Leben machen wird, als er ohne dieselbe ist, so wahr
ist es auch, dass alles Sich-Entwickeln-wollen bei einer Scheu vor
Gedankenanstrengung, alle Träumerei auf diesem Gebiete, der
Phantasterei und auch der falschen Einstellung zum Leben Vorschub
leistet.
Niemand hat etwas zu fürchten, der unter Beobachtung des
hier Gesagten sich zu höherer Erkenntnis entwickeln will; doch sollte es eben nur unter dieser Voraussetzung geschehen. Diese Voraussetzung hat nur mit der Seele und dem Geiste des Menschen zu tun;
zu reden von einem irgendwie gearteten schädlichen Einfluss auf
leibliche Gesundheit ist bei dieser Voraussetzung absurd. Der
unbegründete Unglaube allerdings ist schädlich. Denn er wirkt in
dem Empfangenden als eine zurückstoßende Kraft. Er verhindert ihn,
die befruchtenden Gedanken aufzunehmen.
Kein blinder Glaube, wohl
aber die Aufnahme der geisteswissenschaftlichen Gedankenwelt wird
bei der Erschließung der höheren Sinne vorausgesetzt. Der
Geistesforscher tritt seinem Schüler entgegen mit der Zumutung:
nicht glauben sollst du, was ich dir sage, sondern es denken, es zum
Inhalte deiner eigenen Gedankenwelt machen, dann werden meine
Gedanken schon selbst in dir bewirken, dass du sie in ihrer Wahrheit
erkennst. Dies ist die Gesinnungdes Geistesforschers. Er gibt die
Anregung; die Kraft des Fürwahrhaltens entspringt aus dem eigenen
Innern des Aufnehmenden. Und in diesem Sinne sollten die
geisteswissenschaftlichen Anschauungen gesucht werden.
Wer die
Überwindung hat, sein Denken in diese zu versenken, kann sicher
sein, dass in einer kürzeren oder längeren Zeit sie ihn zu eigenem
Anschauen führen werden. Schon in dem Gesagten liegt eine erste
Eigenschaft angedeutet, die derjenige in sich ausbilden muss, der zu
eigener Anschauung höherer Tatsachen kommen will. Es ist die
rückhaltlose, unbefangene Hingabe an dasjenige, was das
Menschenleben oder auch die außermenschliche Welt offenbaren. Wer
von vornherein mit dem Urteil, das er aus seinem bisherigen Leben
mit bringt, an eine Tatsache der Welt herantritt, der verschließt
sich durch solches Urteil gegen die ruhige, allseitige Wirkung,
welche diese Tatsache auf ihn ausüben kann.
Der Lernende muss in
jedem Augenblicke sich zum völlig leeren Gefäß machen können, in
das die fremde Welt einfließt. Nur diejenigen Augenblicke sind
solche der Erkenntnis, wo jedes Urteil, jede Kritik schweigen, die
von uns ausgehen. Es kommt zum Beispiel gar nicht darauf an, wenn wir
einem Menschen gegenübertreten, ob wir weiser sind als er. Auch das
unverständigste Kind hat dem höchsten Weisen etwas zu offenbaren.
Und wenn dieser mit seinem noch so weisen Urteil an das Kind
herantritt, so schiebt sich seine Weisheit wie ein trübes Glas vor
dasjenige, was das Kind ihm offenbaren soll.
Zu dieser Hingabe an die
Offenbarungen der fremden Welt gehört völlige innere Selbst
losigkeit. Und wenn sich der Mensch prüft, in welchem Grade er diese
Hingabe hat, so wird er erstaunliche Entdeckungen an sich selbst
machen.
Will einer den Pfad der höheren Erkenntnis betreten, so muss
er sich darin üben, sich selbst mit allen seinen Vorurteilen in
jedem Augenblicke auslöschen zu können. So lange er sich auslöscht,
fließt das andere in ihn hinein. Nur hohe Grade von solch
selbstloser Hingabe befähigen zur Aufnahme der höheren geistigen
Tatsachen, die den Menschen überall umgeben.
Man kann zielbewusst in
sich diese Fähigkeit ausbilden. Man versuche zum Beispiel gegenüber
Menschen seiner Umgebung sich jedes Urteils zu enthalten. Man
erlösche in sich den Maßstab von anziehend und abstoßend, von dumm
oder gescheit, den man gewohnt ist anzulegen; und man versuche, ohne
diesen Maßstab die Menschen rein aus sich selbst heraus zu
verstehen.
Die besten Übungen kann man an Menschen machen, vor
denen man einen Abscheu hat. Man unterdrücke mit aller Gewaltdiesen
Abscheu und lasse alles unbefangen auf sich wirken, was sie tun.
Oder wenn man in einer Umgebung ist, welche dies oder jenes Urteil
herausfordert, so unterdrücke man das Urteil und setze sich
unbefangen den Eindrücken aus. Man lasse die Dinge und Ereignisse
mehr zu sich sprechen, als dass man über sie spreche.
Und man dehne
das auch auf seine Gedankenwelt aus. Man unterdrücke in sich
dasjenige, was diesen oder jenen Gedanken bildet, und lasse
lediglich das, was draußen ist, die Gedanken bewirken. Nur wenn mit
heiligstem Ernst und Beharrlichkeit solche Übungen angestellt
werden, führen sie zum höheren Erkenntnisziele.
Wer solche Übungen
unterschätzt, der weiß eben nichts von ihrem Wert. Und wer
Erfahrung in solchen Dingen hat, der weiß, dass Hingabe und
Unbefangenheit wirkliche Krafterzeuger sind. Wie die Wärme, die man
in den Dampfkessel bringt, sich in die fortbewegende Kraft der
Lokomotive verwandelt, so verwandeln sich die Übungen der
selbstlosen geistigen Hingabe in dem Menschen zur Kraft des Schauens
in den geistigen Welten.