Das Vorwalten des in seinen Fixierungen befangen Ichs, das alle Verwandlungen blockiert, manifestiert sich und ist zu verspüren auch in der leibhaftigen Weise, da zu sein. Das Lassen der in ihr erscheinenden Fehlhaltungen des Subjekts ist also kein nur innerlicher Vorgang. Es ist vielmehr vor allem ein Auflösen und Loslassen leibhaftiger Fehlhaltungen, in denen der Sicherungswille des Welt-Ichs erscheint und eingefleischt ist.
So das Fallenlassen der hochgezogenen Schultern, in denen sich das sich sichernde Ich ver-hält; das Loslassen des Unterkiefers, in dem ein übermächtig und eigenläuftig geworderner Eigenwille sich festsetzt; das Freigeben der Stirn, deren senkrechte Faltung die Erstarrung des intentionalen Blicks zugleich anzeigt und verewigt; das Zurücknehmen des gegenständlich fixierenden Auges des Welt-Ichs zugunsten des inständlich zulassenden und hinnehmend schauenden Wesensauges; das Freigeben des eingezogenen Bauches, der den Menschen von den Grundkräften abschnürt zugunsten einer breit verwurzelten Leibesmitte, die sich voll im Beckenraum ausschwingen darf.
Bei der Überwindung dieser Fehlhaltung geht es nicht nur um kleine „körperliche“ Verkrampfungen, sondern um den vielseitigen Ausdruck einer zentralen Verhaltenheit eines im Welt-Ich befangenen, dem Leben nicht trauerndernden Subjekts. Daher gelingt das Lassen in einem den Augenblick überdauernden Sein auch nicht durch ein bloß technisches Loslassen bestimmter Muskelpartien, geschweige durch eine Spritze oder Massage. Es gelingt nur, wo der Mensch lernt, sich als Ich loszulassen, das heißt ins Vertrauen zu gehen.
„Wo“ auch immer die besondere Verspannung körperlich sichtbar und fühlbar sein mag, in Wahrheit ist es immer der betreffende Jemand, der sich mangels rechten Vertrauens ver-hält und verspannt. Sich lassen bedeutet daher vor allem ein Zulassen des Vertrauens darauf, dass man auch, wenn man sich in seinem Welt-Ich löslässt, keineswegs in ein Nichts fallen wird. Man wird aufgefangen in einer Verfassung, in der man sich nicht mehr nur auf sich und sein Können verlässt und nicht mehr nur von der Welt her und auf sie hin da ist, sondern vom Wesen her, darin man teilhat am weltüberlegenen Sein. Wer gelernt hat, sich zum Wesen hin loszulassen, hat die Angst vor der Welt überwunden.
Karl Graf Dürckheim - Der Alltag als Übung