So bin ich frei. In Liebe.

Ich frage keinen Menschen und auch keine Regel: Soll ich diese Handlung ausführen, sondern ich führe sie aus, sobald ich die Idee davon erfasst habe. Nur dadurch ist sie meine Handlung. Wer nur handelt, weil er bestimmte sittliche Normen anerkennt, dessen Handlung ist das Ergebnis der in seinem Moralkodex stehenden Prinzipien. Er ist bloß der Vollstrecker. Er ist ein höherer Automat.

Werft einen Anlass zum Handeln in sein Bewusstsein, und alsbald setzt sich das Räderwerk seiner Moralprinzipien in Bewegung und läuft in gesetzmäßiger Weise ab, um eine christliche, humane, ihm selbst geltende, oder eine Handlung des kulturellen Fortschritts zu vollbringen.

Nur wenn ich meiner Liebe zu dem Objekt folge, dann bin ich es selbst, der handelt. Ich handle auf dieser Stufe der Sittlichkeit nicht, weil ich einen Herrn über mich anerkenne, nicht die äußere Autorität, nicht eine sogenannte innere Stimme. Ich erkenne kein äußeres Prinzip meines Handelns an, weil ich in mir selbst den Grund des Handelns, die Liebe zur Handlung gefunden habe.

Ich prüfe nicht verstandesmäßig, ob meine Handlung gut oder böse ist. Ich vollziehe sie, weil ich sie liebe. Sie wird "gut", wenn meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinsteht, "böse", wenn das nicht der Fall ist. Ich frage mich auch nicht: Wir würde ein andere Mensch in meinem Fall handeln, sondern ich handle, wie ich, diese besondere Individualität, zu wollen mich veranlasst sehe.

Nicht das allgemein Übliche, die allgemeine Sitte, eine allgemein-menschliche Maxime, eine sittliche Norm leitet mich in unmittelbarer Art, sondern meine Liebe zur Tat. Ich fühle keinen Zwang, nicht den Zwang der Natur, die mich bei meinen Trieben leitet, nicht den Zwang der sittlichen Gebote, sondern ich will einfach ausführen, was in mir liegt.

Die Verteidiger der allgemeinen sittlichen Normen könnten etwa zu diesen Ausführungen sagen: Wenn jeder Mensch nur danach strebt, sich auszuleben und zu tun, was ihm beliebt, dann ist kein Unterschied zwischen guter Handlung und Verbrechen. Jede Gaunerei, die in mir liegt, hat gleichen Anspruch sich auszuleben wie die Intention, dem allgemeinen Besten zu dienen. Nicht der Umstand, dass ich eine Handlung der Idee nach in Auge gefasst habe, kann für mich als sittlichen Menschen maßgebend sein, sondern die Prüfung, ob sie gut oder böse ist. Nur im ersteren Fall werde ich sie ausführen.

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Dass die Tat des Verbrechers, dass das Böse in gleichem Sinne ein Ausleben der Individualität genannt wird wie die Verkörperung reiner Intuition, ist nur möglich, wenn die blinden Triebe zur menschlichen Individualität gezählt werden. Aber der blinde Trieb, der zum Verbrechen treibt, gehört nicht zum Individuellen des Menschen, sondern zum Allgemeinsten in ihm, zu dem, was bei allen Individuen in gleichem Maße geltend ist aus dem sich der Mensch auch sein Individuelles herausarbeitet.

Das Individuelle in mir ist nicht mein Organismus mit seinen Trieben und Gefühlen, sondern das ist die eigene Ideenwelt, die in diesem Organismus aufleuchtet. Meine Triebe, Instinkte, Leidenschaften begründen nicht weiter in mir, als dass ich zur allgemeinen Gattung Mensch gehöre. Der Umstand, dass sich ein Ideelles in diesen Trieben, Leidenschaften und Gefühlen auf eine besondere Art auslebt, begründet meine Individualität.

Rudolf Steiner - Die Philosophie der Freiheit, Kapitel IX. Die Idee der Freiheit, S. 191f, Rudolf Steiner Ausgaben, 4. Auflage 2017, Bad Liebenzell