Hallo F.,
ich habe von einem guten Freund deinen offenen Facebook-Brief bekommen. Nach einiger Überlegung habe ich mich dazu entschlossen, dir mit einem lieben Brief zu antworten, denn: Ich kann deinen Eindruck nachvollziehen, auch mitfühlen und verstehen. Ich kann dich sogar ein wenig beruhigen. Es sind bereits viele andere stark verunsichert. Du bist nicht allein. Das ist aber schon die einzige Beruhigung.
Wenn du wirklich an einer neuen Perspektive auf die Welt interessiert bist, die dir das „Gefühl des Verstehens“ gibt, braucht es einen längeren Atem, als du dir vielleicht vorstellst. Ich kann nicht genau sagen, wie viel ich in den letzten Wochen und Monaten gelesen habe, Bücher, Webseiten und Zeitschriften, aber eines ist klar. Es hat mich viel Mühe und Zeit gekostet, mir ein neues, mein eigenes Bild von der Lage der Welt zu machen. Und leider ist nichts bequemer, vieles viel unschöner geworden. Hoffnung gibt es dennoch. Ich fand auch viele gute Ideen, tolle Menschen und neue Projekte.
Ich frage dich: Bist du gewillt, dir deine eigene
Meinung zu erarbeiten? Bist du bereit etwas zu tun? Zu lesen, zu
sehen, zu fragen, zu recherchieren. Bist du bereit deine eigene
Verunsicherung zu tolerieren, weil sie der Motor für weitere
Recherchen sein kann? Bist zu bereit, Schranken und Vorurteile zu
überwinden, weil Vorurteile dich daran hindern, weiter zu bohren?
Willst du unvoreingenommen nachfragen, um hinter die Fassade zu
blicken? Bist du bereit an die Grenzen deiner aktuellen
Vorstellstellungen zu gehen?
Willst du dein Misstrauen als gerechtfertigt
anerkennen und es nicht bekämpfen – sondern das bekämpfen, was
das Misstrauen auslöst? Bist du bereit, Verantwortung für dein
Weltbild zu übernehmen? Dann fang an, selbst zu recherchieren. Grabe
tief und schrecke vor nichts zurück! In der Welt, in der wir leben,
gibt es viel Böses und viel Gutes. Viel komplexes. Einfacher werden
die Erklärungen für die Welt nicht. Wenn du eine einfache Erklärung
suchst, höre hier auf zu lesen.
Für Wunder muss man
beten,
für Veränderungen muss man arbeiten.
Thomas von Aquin
für Veränderungen muss man arbeiten.
Thomas von Aquin
Nur Mut bringt dich weiter
Die Einleitung klingt vielleicht überzogen.
Vielleicht denkst du, der spinnt doch. Sicher kommen jetzt die
wildesten Theorien. Glaube mir, sage ich dir dann, genau so dachte
ich bis vor einigen Monaten auch noch. Noch immer kann ich mich nur
schwer an mein neues sich ständig veränderndes Weltbild gewöhnen.
In trüber Unwissenheit, war meine Welt bisher
zwar nicht rosa, aber irgendwie auf dem richtigen Weg. Heute stehe
ich manchmal an einer Bahnstation, schau mich um und frage: Wie ist
dieses Welt bloß so schlimm geworden? Wann hat das denn alles
angefangen? Die Antwort kommt mir meist schmerzhaft in den Kopf
geschossen: Schritt für Schritt und kontinuierlich ist sie so
geworden, während ich aufwuchs, war sie schon im Gange zu werden,
aber dann war ich lange damit beschäftig, Frauen zu jagen, mir das
Bewusstsein wegzufeiern und mir über das Internet den neusten
Hipster-Scheiß reinzufahren. Dann kam das selektive Studium, die
Sorge um einen Arbeitsplatz, und die Jobs. Immer drehte sich alles um
mich. Ich habe einfach nicht genau hingeschaut, was sonst so
geschieht.
Die Welt ist also so geworden, weil ich nicht
mitgestaltet habe. Die Welt ist so geworden, weil wahnsinnig viele
nicht mitgestaltet haben – während einige wenige sehr intensiv
gestaltet haben; und sich parallel dazu sehr viel Mühe gegeben
haben, dass die meisten nicht mitbekommen, was da gestaltet wird.
Klingt das schon nach Verschwörungstheorie? Dann fangen wir doch
gleich mal mit der ersten Herausforderung an.
Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht,
sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.
Seneca
Begriffe als Hindernisse
Das Wort Verschwörungstheorie ist ein mächtiges
Wort. Es hat die Macht, die Freiheit des Denkens zu beschränken.
Dazu beobachtete ich meine eigene Reaktion: Der Begriff war für mich
ein Urteil über einen Sachverhalt. Was Verschwörungstheorie war,
gefiel mir nicht. Aber meist wusste ich darüber auch nicht viel. Ein
Urteil zu fällen, sobald es nur leicht nach
„Verschwörungstheorie“ riecht, ist einfach. Nach dem „Fällen“ des
Urteils hörte ich bisher sofort auf, diese Theorien weiter
zu verfolgen. Ich lehnte sie einfach ab. Sie waren für mich Theorien
von Verschwörern, von Leuten, die mehr glaubten als wussten. Doch
irgendwann reflektierte ich meine Reaktion und erkannte: Das ist
ignorant. Und ignorant will ich nicht sein. Inzwischen sehe ich die
Ignoranz des Menschen als das große Hindernis auf dem Weg zu seiner
Freiheit. Also schaute ich genauer hin.
Mit Fußball fing alles an
Ich greife zehn Jahre zurück: Ich bin wahrlich
kein Fußball-Fan. Ich meine, es gibt Wichtigeres, als ein Spiel, bei
dem 22 Männer spielen und alle Zuschauer gerne rumbrüllen und
Biertrinken. Brüllen find ich scheiße. Bier allerdings ist lecker.
Irgendwann kam ein neuer Gedanke: Was fasziniert denn die Hälfte der
Menschheit an diesem doofen Spiel? Ich hatte keine Antwort.
Der Weg zu einer Antwort ging nur über meine eigene
Beschäftigung mit dem Thema. Nach der WM 2006 war mir vollkommen
klar, wie tiefsinnig, komplex, spannend, theoretisch anspruchsvoll
und emotional tiefgreifend das Fußballspiel ist. Ich bin fasziniert.
Seither kann ich nachvollziehen, was andere Menschen daran fesselt.
Zum regelmäßigen Fußballschauer bin ich trotzdem nicht geworden,
dafür fesseln mich von andere Themen mehr.
Lernen ist wie Rudern
gegen den Strom.
Hört man damit auf, treibt man zurück.
Lao Tse
Hört man damit auf, treibt man zurück.
Lao Tse
Mit Religion ging es weiter
Mit Religion hielt ich es genauso. Warum, fragte
ich mich, hält sich Religion so hartnäckig in der Geschichte der
Menschheit? Was ist es, das so viele Menschen daran fasziniert, dass
sie sogar dafür töten, oder in ihrem Namen der Welt entsagen und
ins Kloster gehen? In meinen rudimentären Schulkenntnissen über
Jesus konnte ich keinen Grund dafür finden. Ich machte mich auf eine
lange Suche – und bin nach Jahren erst am Anfang.
In den folgenden Jahren befasste ich mich also
immer wieder mit Religion. Ich las Bücher und Artikel, schaute Dokus
und Filme über das Thema. Leider fand ich in meinem Umfeld keine
einzige Person, mit der ich neutral neugierig über Religion sprechen
konnte. Die meisten stopften Religion mit den Verbrechen der Kirche
in einen Topf und lehnten jedes Interesse an den Inhalten der
Religion als blödsinnig ab.
Das war meine erste Konfrontation mit einer
stillen Doktrin der Gesellschaft: Ignoranz ist Mainstream. Freilich
ist das Internet und die Bücherwelt ein Ort voller Freiheiten. Aber
darüber sprechen ist in vielen Kreisen tabu. Im Laufe der Zeit
erweiterte ich mein Wissen über religiöse Inhalte. Meine direkte
Umwelt aber ist bis heute weitgehend ignorant gegenüber meiner
Neugierde. Ich möchte nur einen Satz über Religion loswerden, den
ich als ein Ergebnis meiner Recherche betrachte: Sich nicht mit
religiösen Inhalten zu befassen, ignoriert einen Großteil der
eigenen Menschlichkeit.
Ich bin sehr froh darüber, dass ich mich
aufgemacht habe, dieses weite Feld trotz aller Hindernisse zu
erkunden. So vorurteilsfrei wie möglich, so unvoreingenommen,
neugierig und interessiert, so sachlich und persönlich, so
theoretisch und eigenen Erfahrungen gegenüber offen wie möglich.
Und nach aller Recherche weiß ich inzwischen auch: Was weiß man
über eine Achterbahnfahrt, wenn man nur darüber gelesen hat?
Teste dich selbst
Wie ignorant bist du? Lehnst du einfach ab, dass
es anders sein könnte, als du dir heute vorstellst, oder glaubst?
Stell dir vor du lebst winzigklein auf einem Kaninchen. Willst du
unten bleiben im kuschelig warmen Fell des Kaninchens? Oder bist du
bereit, an einem Haar nach oben zu klettern? Von dort kannst du dann
das ganze Kaninchen sehen, und die Sterne – und dass der Platz in dem Fell, in dem
es unten so warm ist, Teil eines ganzen Organismus ist.
Lehnst du die Verunsicherung, die mit deine Reise
einhergeht, ab, als etwas, das verdrängt werden muss, damit du
wieder „funktionierst“? Hast du schon nach den ersten
Kletterversuchen am Haar nach oben Angst, nach unten zu fallen? Oder bist du
mutig!
Wenn du also weiterhin schnell urteilst, wenn es
nach Verschwörungstheorie riecht, kommst du nicht weiter. Das geht
nicht. Garantiert. Bist du aber bereit, angelernte Urteile,
übernommene Theorien und unkritisch akzeptierte „wahre“ Fakten
erst einmal als Hindernisse für ein offenes, eigenes Weltbild
heranzuziehen, machst du dich bereit für neue Informationen. Stück
für Stück wird sich das Bild zusammenfügen. Wisch für Wisch wird
sich der Blick durch das Glas klären. Schritt für Schritt steigst
du an deinem Kaninchenhaar nach oben. Wenn du merkst, dass dir
Gegenwind ins Gesicht bläst, ist das ein gutes Zeichen. Wenn du
merkst, dass du etwas nicht glauben willst, ist es ein gutes Zeichen.
Denn dort kommst du weiter. Hast du Angst davor, anderer Meinung zu
sein als der Mainstream, höre besser auf, Fragen zu stellen. Denn
mit der Fragerei fängt alles an, unangenehm zu werden.
Die Probleme, die es in der
Welt gibt, sind nicht
mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.
Albert Einstein
mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.
Albert Einstein
Praktische Philosophie für ein besseres Leben
Ja, ich kaufe mir auch „alternative
Zeitschriften.“ In Zeitschriften finde ich nämlich viele tolle
positive Beispiele. Im Internet wimmelt es nur so von Beispielen und
Beweisen für das Böse in der Welt. Damit beschäftige ich mich
auch. Aber ich will auch wissen, ob es schon Alternativen gibt. Es
muss doch auch Menschen geben, die ihr Leben lang tolle Dinge gemacht
haben. Es muss doch auch junge Menschen geben, die anfangen, tolle
(und vor allem sinnvolle Dinge) zu tun. Die Zeitungen verlieren
darüber nur wenig Worte. Klassische Nachrichten nie ein einziges.
Nur Krieg und Sterben in der Welt. Den Bereich kannst du dir selbst
wählen: Wirtschaft. Gesellschaft. Studium. Schule. Kindergarten.
Religion. Spiritualität. Sport. Astronomie. Physik. Technik – oder
Philosophie:
„So wie wir den Kosmos in
der Gesamtheit aller damit bezeichneten Phänomene oder die Natur in
ihrer ökologischen Komplexität nicht „sehen“, so sehen wir auch
nicht die „Gesellschaft“ oder den „Markt“ als Ganzes.
Komplexe Gebilde liegen außerhalb jeder Wahrnehmung (wie auch das
Gehirn, das uns, indem wir es gebrauchen, „unsichtbar“ bleibt).
Jetzt aber wird ein neues
Kapitel aufgeschlagen: digital world. Die neuen Such-Maschinen
erlauben uns, in einem bisher ungeahnten Maße die Marktwelten
zu durchsuchen.[...] Was die Suchmaschinen anbieten, und was nicht,
wissen wir nicht (auch das bleibt intransparent). Aber unsre
Suchbereiche vergrößern sich immens. […] Alle die etwas anbieten,
versprechen Qualität und versuchen, uns zum Kauf zu überreden. Aber
auf bloße Versprechen können wir nicht vertrauen. So ziehen wir
Qualitätsbeurteilungen zu Rate, die das Internet bietet: Blogs,
Portale etc. Was wir nicht wissen und überprüfen können,
überlassen wir Dritten, die wir wieder nicht überprüfen können.
Zuletzt verlassen wir uns auf die Netzwerkkommunikation – aber auch
die verrät uns letztlich nur, dass viele andere ein bestimmtes
Produkt kaufen oder loben. Das heißt: Wir schließen uns
Beobachtungen anderer an und übernehmen dessen Urteil. Das
vergrößert unseren Suchbereich ungemein. Allein: das Suchen ist
aufwendig, und wir bleiben oft an den erstbesten Hinweisen hängen
und übernehmen sie.
Vollständige Information
ist unmöglich, weil wir die Kriterien der für uns Suchenden nicht
kennen. […] Wir entscheiden in dem für uns sichtbaren Bereich,
ohne zu wissen, was wir nicht sehen. Damit wissen/sehen wir nicht,
was es in dem Bereich, den wir nicht sehen [...], noch an
Möglichkeiten gibt.
Wir optimieren das uns
Bekannte. Aber wir wissen nicht, was an Optimierung möglich wäre,
weil wir das, was über über das uns Bekannte hinaus möglich wäre,
ignorieren. Wie gesagt: Alle Möglichkeiten kennen und bewerten zu
wollen, würde uns kognitiv überfordern. […]
agora42 Ausgabe 03/2014, S. 9-12, Text: Birgit P.Priddat
Die Autorin des Artikel schreibt über den
„Markt“. Ihre Aussagen treffen aber auch auf das individuelle
Wahrnehmen der Welt zu. Und die Frage, die am Schluss steht: Wie weit
muss ich am Kaninchenhaar hinaufklettern, bis ich mich wohlfühle,
bis Wissen und Gefühl in Einklang kommen? Ich behaupte: Man muss
einfach sein ganzes Leben lang kontinuierlich klettern. Fang also am
besten gleich an.