Verwirrung zugeben ist Stärke zeigen !

Mir wurde ein offener Brief gemailt:

Liebe FB-Freunde,
nein, ich bin weder verrückt geworden (glaube ich) noch hysterisch, möchte nicht missionarisch auftreten und Euch mit meiner begrenzten Sicht auf die Dinge belehren oder nerven, auch bin ich nicht unter die Seelenexhibitionisten gegangen, um hier öffentlich mit meinen Tagebuchintimitäten hausieren zu gehen. Wer in den folgenden Zeilen dergleichen empfindet, der sei an die Maus verwiesen, die mich mit einem Klick aus Eurem Äther der sozialnetzwerklichen Totalkommunikation zu entfernen vermag.

Ich habe seit einiger Zeit irgendwie ein diffuses Gefühl von Angst. Leute, die mich näher kennen – was auf Facebook ja nun nicht zwingend gegeben ist -, wissen, dass das für mich, der ich eigentlich eher ein in den Sphären der Naivität schwebender Optimist bin, untypisch ist. Dennoch beschleicht mich das ungute, eben: beängstigende Gefühl, in eine Welt geworfen zu sein, die sich zunehmend meinem verstehenden Zugriff entzieht. Das kann daran liegen, dass ich dümmer geworden bin, das kann auch daran liegen, dass die Welt an Komplexität gewonnen hat (laaangweilig, ich weiß). Verschonen wir mich mit einer selbstkritischen Auseinandersetzung hinsichtlich Lebenswandels usw., die erstere Hypothese stützen würde, und konzentrieren wir uns auf zweitere, was schon insofern gerechtfertigt wird, als ich mich in dieser Lage nicht alleine zu befinden glaube.

Komplexer also; alles fließt, die Welt ist dynamisch, die Menschheit entwickelt sich. Man könnte, wie Agent Smith in „Matrix“, sagen: „Evolution, Morpheus, Evolution“, den unweigerlichen Lauf der Dinge staunend und passiv betrachten, das Unvermeidliche unvermeidlich sein und den Weltgeist sich entfalten lassen, der unsichtbaren Hand vertrauen und versuchen, so gut als möglich seine ideellen und pekuniären Schäfchen im Trockenen einzupferchen. Man könnte defätistisch sagen, es gab schon immer schlimmere Probleme, die wir ohnehin nicht lösen können, fuck it, hör‘ auf mit dieser Nostalgie-Nummer, Deutschland ist Weltmeister, alles ist gut.

Man könnte aber auch feststellen, dass sich momentan Vieles an der Peripherie unseres mittel-westeuropäischen Bewusstseinshorizonts abspielt, das irgendwie nicht so gut ist. Man könnte sogar feststellen, dass dieses „irgendwie nicht Gute“ offenbar bereits mitten in unserer Gesellschaft angekommen ist.

Wenn ich gegenwärtig Wahlergebnisse und den nicht zu unterschätzenden Zulauf mit stumpfen Anti-EU-Parolen und offen xenophoben Stereotypen werbender Parteien betrachte, wenn ich die beängstigend niedrige Wahlbeteiligung in vor noch nicht allzu langer Zeit undemokratisch konstituierten Landstrichen besehe, wenn ich mir scheinbar wieder gesellschaftsfähig gewordene fremdenfeindliche, politikverdrossene, ja antisemitische Ressentiments en masse auf den Straßen dieses Landes wie in den Foren großer Presseorgane zu Gemüte führe, wenn ich die nicht zu unterschätzende Anzahl an (nicht nur verschrobenen) Leuten registriere, die davon überzeugt sind, unseren Leitmedien nicht mehr glauben zu können, teils gar von einer groß angelegten, zentral orchestrierten Totalverschwörung ausgehen, beschleicht mich das ungute Gefühl, selbst in unserem Land, das in vielerlei Hinsicht wohl deutlich besser gestellt ist als ein Großteil der restlichen Welt, brodeln Geysire der Unzufriedenheit, die schlimmstenfalls Vorboten gravierender tektonischer Verschiebungen, bis ins Mark erschütternder gesellschaftspolitischer Erdbeben sein könnten.

Ich glaube (und bin beileibe nicht der Erste, dies zu glauben), dass gegenwärtig ein ganz erheblicher Teil der hiesigen Bevölkerung, in Deutschland ebenso wie fast überall auf dem Territorium dieser ureigentlich wundervollen Idee der Europäischen Union, nicht einmal mehr ansatzweise versteht, was auf der großen Bühne der Weltpolitik gespielt wird, deren Skript manipuliert und deren Ensemble von einer unsichtbaren Hand gesteuert wird. Besagtes Unverständnis geht einher mit einem Gefühl von wachsender (nicht selbstverschuldeter) Unmündigkeit, die für erwachsene, freiheitserprobte Menschen nur schwerlich zu ertragen ist.

Dieses Brodeln, dieses gedeihlich auf Resonanz stoßende Geseier beerdigt geglaubter Stereotype schlimmster Facon, dieses zunehmende Kokettieren mit zumindest euro-, oft gar verfassungsfeindlichen Parteien, dieses erschreckend gesellschaftsfähige Goutieren Putinschen Zaren-Gehabes sehe ich als Symptome einer großen Gruppe von vermeintlich souveränen Menschen, die ihr pathologisches Dasein als Armada heteronomer Pingpongbälle, zwischen unsichtbaren Händen erbarmungslos hin und her geschmettert, nicht mehr lange zu erdulden bereit sind.

Ich möchte nicht unnötig schwarzmalen. Ich möchte auch nicht fortschrittsfeindlich, ewiggestrig, konservativ wirken. Ich möchte aber weiterhin in einer Umgebung leben, von der ich weiß, dass sie darauf ausgelegt ist, das Leben möglichst vieler auf der Basis eines annehmbaren Kanons humanistischer Werte wie Menschlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit, Mündigkeit und Frieden möglichst lebenswert zu gestalten.

Dieses Gefühl hatte ich für die längste Zeit meines Lebens, welches ich als Kind der 80er-Jahre – wie vermutlich die meisten von Euch - in einer größtenteils friedlichen, zumeist prosperierenden, vornehmlich toleranten, zuvörderst jedoch zweifellos demokratischen Gesellschaft verbringen zu dürfen privilegiert war.

Dieses Gefühl diffundiert derzeit; es diffundiert in die Grenzen meines Intellekts, der die ideellen, technologischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und (finanz)politischen Verknüpfungen und Entwicklungen nicht mehr zu erfassen vermag. Das wäre nicht weiter schlimm, denn es gibt klügere Menschen als mich, auf die ich dann müsste zählen können. Politiker beispielsweise, kluge, ja, weise Politiker, denen ich in der Vergangenheit fast so sehr vertraut habe, einen den Gegebenheiten entsprechenden Minimalnenner guten Lebens herzustellen, wie ich Spieler und Verantwortliche des FC Bayern kritiklos vergöttere (okay,erwischt, ich übertreibe). Darauf vertraue ich nicht mehr.

Nicht, weil ich derweil zu der Auffassung gekommen bin, „die da oben machten eh nur ihr Ding und kümmerten sich nicht um die Angelegenheiten des kleinen Mannes“. Sondern weil ich glaube, dass „die da oben“ mittlerweile selbst nicht mehr imstande sind, die Komplexität der Welt dergestalt zu durchdringen, den Bereich unserer „öffentlichen Sachen“ wirklich konstruktiv, nachhaltig und berechenbar gestalten zu können.

Ich bin nicht politikverdrossen, nicht wütend auf „die da oben“ und keinesfalls geneigt, mir eine Revolution herbeizuwünschen (das Revolutionärste, was ich in politischer Hinsicht je getan habe, war vermutlich, an einem Wahlsonntag auf zwei Wahlzetteln drei verschiedene Parteien, deren Farben rot, schwarz und grün sind, zu wählen). Ich bin, im Gegenteil, vorbehaltlos dafür, „der Politik“, solange sie demokratisch legitimiert ist, demokratisch legitimiert sein kann, die Stange zu halten, bis es mein Blutdruck nicht mehr hergibt (sic! flach und vulgär, sorry).

Und hier kommt der Punkt, an dem ich zweifle und ergo (verängstigt) bin: Ist diese demokratisch legitimierte Macht, die „die Politik“ braucht, um „durchregieren zu können“, wie eine mecklenburgische Pastorentochter einst zu sagen pflegte, wirklich noch gegeben? Sind die von Reagan und Thatcher u.a. geweckten neoliberalen Geister, denen nicht zuletzt Gerhard Wladimirowitsch Schröder noch vor nicht allzu langer Zeit beflissen hinterherrief, überhaupt noch loszuwerden?

Oder haben wir es von Angela über Barroso, Cohn-Bendit, Draghi bis Zypries mit einem Alphabet kleiner Zauberlehrlinge zu tun, die hilflos versuchen, uns vor dem Ersaufen in einem Meer voller gieriger Haie, vor dem Ersticken in spekulativen Blasen zu erretten? Kann ich in dieser Welt, die unter den Fittichen der ikarusähnlichen Hochfinanz, getragen von globalen finanzwirtschaftlichen Verästelungen und darüber gebreiteten (Rettungs)Schirmen, beflügelt vom Helium der Hybris, der Derivate, der TTIP’s und TISA’s und was dergleichen mehr ist, das ich nicht verstehe, kann ich in dieser Welt noch an die Urne gehen, mein Kreuzchen machen und darauf vertrauen, dass derjenige, den ich wähle, überhaupt die politische Macht hat, dafür zu sorgen, sein Mandat gemäß dem repräsentierten Willen auszuüben?

Bitte sagt es mir, das meine ich ganz ernst, insbesondere jene Leute, deren finanz- und wirtschaftspolitischer Horizont meinen diesbezüglich arg beschränkten übersteigt: Wie stabil, wie handlungsfähig ist unser System? Wie stabil, wie handlungsfähig wird es sein, wenn Ikarus nur noch ein bisserl näher an die Sonne heranfliegt? Wenn ich ihm beim Fliegen zusehe, verarschen mich meine Ohren mit dem trappelnden Geräusch von sechszehn Hufen. Und das macht mir irgendwie Angst.