Lasst eure Gefühle nicht missbrauchen!



Rede Alves Besenstiels (aus Franz Müllers Drahtfrühling)

MENSCHEN!
Lasst eure Gefühle nicht missbrauchen.
Es gibt keine Ehre.
Es gibt keine Schmach.
Strebt, Menschen zu werden!
Nieder den Krieg.

Wenn du glaubst, durch Hass zum Völkerfrieden zu kommen, wenn du glaubst, durch Krieg zum Frieden zu kommen, wenn du glaubst durch Unrecht zum Recht zu kommen, so glaube ich, durch dada zum Stil zu gelangen. Aber anders, als du denkst. Durch den Dadaismus gelangen wir zum Stil, weil uns dada die ganze erhabene Stillosigkeit unserer Zeit so recht „lieb“ und eindringlich zeigt. Darum fordere ich euch auf, ihr Kriegshetzer hier und dort, dass ihr Hass säet und Unrecht vorbereitet, zeigt, wie grausam der Krieg ist, zeigt, wie kleinlich euer Hass ist, zeigt, welch ein Unrecht der Krieg ist, damit wir den Krieg hassen lernen. Bevor es Völker gab, gab es Menschen. Bevor es Hass gab, gab es Liebe. Bevor es Krieg gab, gab es Frieden. Bevor es Unrecht gab, gab es nur Recht. Nur nennen wir unseren Hass jetzt Liebe: „Vaterlandsliebe“. Und unser Unrecht nennen wir: „Unser gutes Recht“. Seid nicht kleinlich, dann werden wir alle eine große Nation sein, wie wir deutschen Stämme jetzt ein großes Deutschland sind und einander lieben und vereint hast. Früher haben wir uns gegenseitig bekämpft, als wir noch nicht wussten, dass der bleiche Mond unser gemeinsamer Feind ist. Seid Menschen, dann werdet ihr Hass mit Liebe beantworten, den Hasser beschämen und den Hass durch Liebe ausrotten. Boykottiert den völkerverhetzenden Hass in den billigen Witzen der Variétékomiker und Witzblätter, in den fetten Balken der Tageszeitungen, in den Plakaten der Schande in den Schaufenstern.

Kurt Schwitters, Das literarische Werk, Band 2 Prosa 1918-1930, S. 39