Ohne den Weg der Reinigung aus der Tiefe des Schuldbewusstseins ist keine Wahrheit für den Deutschen zu verwirklichen. (HS 140)
Das Schicksal, als Deutscher geboren zu sein, ist für uns unentrinnbar. Wir müssen es übernehmen. Es ist schrecklich, wenn es zum verborgenen Einverständnis mit den Verlogenheiten oder mit dem Bösen führt. Es kann wundersam zu eigen werden, wenn die Erfahrung der Durchhellung des Dunkeln, des Bösen, der Unwahrhaftigkeit und des Unheils zur Umkehr führt. Die Erinnerung an unseren ewigen Ursprung wird zu neuem Leben. (HS 364 f.)
Eines würde mir seit 1933 zum selbstverständlichen Grunde meines deutschen Selbstbewusstseins. Das politische Deutschland, als Kleindeutschland aufgrund der Tendenzen von 1848 durch Bismarck begründet, aus verhängnisvoller Unwahrhaftigkeit umkleidet mit dem Reichsgedanken, der aus dem Mittelalter kam, als Zweites Reich geistig so lügenhaft begründet, wie man damals Bahnhöfe in gotischen Stil baute, ist nicht Deutschland schlechthin, sondern eine, auf die Weltgeschichte gesehen, kurzfristige politische Episode. Deutschland, das ist seit 1000 Jahren etwas ganz Anderes, Gehaltvolleres. Der herrliche abendländische Reichsgedanke ging schon im 13. Jahrhundert zugrunde.
Was deutsch ist, das ist zusammengehalten nur durch die deutsche Sprache und das in ihr sich kundgebende geistige Leben, die religiöse und sittliche Wirklichkeit, die in ihr sich mitteilt. Dieses Deutsche ist ungemein vieldeutig. Das politische ist darin nur eine Dimension, und zwar eine unglückselige, von Katastrophe zu Katastrophe gehende Geschichte. Was deutsch ist, das lebt in dem großen geistigen Raum, geistig schaffend und kämpfend, braucht sich nicht deutsch zu nennen, hat keine deutschen Absichten und keinen deutschen Stolz, sondern lebt geistig von den Sachen, den Ideen, der weltweiten Kommunikation. (PuW 357)
Daher wird die Frage „Was ist deutsch?“ entschieden dadurch, ob wir durch ständige Kompromisse unseres Ethos verloren gehen oder ob wir die Umkehr finden und die Folgerungen der Umkehr ziehen. (HS 363)
Umkehr gehört zum Menschen als Menschen. Umkehr ist der Ruf der großen Philosophien und Religionen. Umkehr ist aber als Wirklichkeit stets geschichtlich, einmalig. Was die Umkehr für uns Deutsche sein, werden wir nicht geradezu bestimmen. Es ist nicht als eine rational Faßliches planmäßig zu machen. Aber wir können in den Vordergründen Alternativen zeigen, an denen wir spüren: es sind Symptome des Einen, das wir nicht begreifen. Hinter diesen Alternativen als auftretenden Meinungen verbirgt sich ein Kampf um die Wahrheit im Selbstsein der deutschen Menschen. (HS 360 f.)
Karl Jaspers, Was ist Erziehung? Eine Lesebuch, München 1977, Kapitel: Wahrheit, Freiheit und Friede, Text von S. 271