Die Psychologie der Intimität

"„Intimität“ besitzt viele Facetten, und ich [Tobias Ruland] habe bei meiner Recherche für dieses Buch mehr als ein Dutzend Definitionen gefunden, die allesamt von Menschen stammen, die sich offensichtlich profunde Gedanken gemacht haben. Allerdings scheint allgemeine Verunsicherung zu bestehen, was die Unterscheidung zwischen Nähe und Intimität angeht, und die Essenz von Intimität scheint für viele Menschen schwer greifbar zu sein. Aus diesem Grunde möchte ich nun eine Begriffsbestimmung für „Intimität“ vorschlagen, die dem deutschen Sprachgebrauch angemessen ist und welche im Rahmen dieses Buches Gültigkeit haben soll. Diese Definition ist an Malone (1987) und Schnarch (1991) angelehnt.
Intimität ist das subjektive (d.h. einseitige) Gefühl der Selbsterfahrung und Selbstpreisgabe (als ein „Sich-Erfahren“) in Gegenwart eines anderen Menschen. Diese Selbstpreisgabe ist dann vom anderen wahrnehmbar, wenn sie offen, nicht absichtlich verfälscht oder verstellt und damit authentisch ist. Die Selbsterfahrung (d.h. die Wahrnehmung der eigenen Gedanken und Gefühle und die Auseinandersetzung mit sich selbst) ist notwenige Vorbedingung.
Diese Definition schließt die Einteilung in selbstbestätigte und fremdbestätigte Intimität ein (Schnarch 1997) und umfasst auch Erscheinungsformen wie emotionale, körperliche und intellektuelle Intimität. Intimität ist also nicht synonym mit Nähe, und die im allgemeinen Sprachgebrauch häufig verwendete Gleichsetzung von Intimität und Sexualität ist ebenfalls keine Lesart dieser Definition.
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Nähe heißt, einen anderen in seiner Gegenwart zu erfahren und kennenzulernen. Intimität heißt, sich selbst in Gegenwart eines anderen zu erleben und kennenzulernen.
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Intimität bedeutet, dass ich selbst frei und offen derjenige sein kann, der ich bin, und zwar in fremder Gegenwart. Intimität ist ein Phänomen, das weder an das Bestehen einer romantischen Liebesbeziehung noch an Akzeptanz oder Bestätigung gebunden ist. Indes setzt Intimität voraus, dass ein Mensch stark genug ist, in sich selbst Halt zu finden, sich selbst (kritisch) beobachten und einschätzen zu können und seinen Gedanken und Gefühlen adäquat Ausdruck zu verleihen."

Quelle: Tobias Ruland, Die Psychologie der Intimität, Kapitel 3.1.: Versuch einer Definition, S. 108-112, Zweite Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart 2015