Welche Ideologie dominiert heute auf dem Planeten? Es ist die Ideologie des Neoliberalismus. Sie dient heute dazu, die weltweite Herrschaft der Oligarchen zu rechtfertigen, die das Finanzkapital besitzen. Guy Debord schreibt: „Zum ersten Mal sind dieselben Leute Herr über alles, was wir tun, und über alles, was wir darüber sagen.“ (Guy Debord, *Panégyrique*, Paris 1989)
Und was sind die Grundlagen der neoliberalen Ideologie? Im August 1991 implodierte die Sowjetunion. Bis dahin lebte jeder dritte Mensch auf dem Planeten in einem kommunistischen Regime. Auch wenn die UdSSR den Namen „kommunistisch“ nicht verdiente, denn sie war ein korrupter Polizeistaat, so war die Bipolarität der Weltgesellschaft offensichtlich. Die kapitalistischen Staaten im Westen lebten in der ständigen Angst, dass die europäischen, amerikanischen und anderen Bürger und Bürgerinnen sich womöglich dafür entscheiden könnten, der „kommunistischen“ Idee zu folgen. Darum akzeptierten sie eine zwar begrenzte, aber doch freiwillige Umverteilung ihres Reichtums, was Eingriffe des Staates in die wirtschaftlichen Mechanismen implizierte.
Insbesondere das keynesianische Wirtschaftsmodell, benannt nach dem Ökonomen John Maynard Keynes, Verfasser des 1936 erschienenen Werks Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, propagierte eine andere Politik als die des klassischen Liberalismus: Die schrittweise Erhöhung der Kaufkraft der Arbeiter soll für Wirtschaftswachstum sorgen, und der Wohlfahrtsstaat garantiert den abhängigen Klassen ein Minimum an sozialer Sicherheit. An diesem Modell orientierten sich die westlichen Demokratien seit dem amerikanischem New Deal von Franklin D. Roosevelt als Reaktion auf den Laisser-faire-Kapitalismus und die Weltwirtschaftskrise von 1933 bis zum Zerfall des Ostblocks.
Aber mit dem Ende des Sowjetreiches verschwand die Bipolarität und mit ihr die demokratische Gefahr als beständige Bedrohung des Monopols der herrschenden weltlichen Klassen auf die politische und finanzielle Macht. Die herrschenden Klassen führten eine neue wirtschaftliche und politische Praxis und eine originelle Bezeichnung dafür ein: den „Washingtoner Konsens“.
Dabei handelte es sich um informelle Vereinbarungen, um gentleman agreements, die im Lauf der 1980er- und 1990er-Jahre zwischen den führenden transkontinentalen Mächten, Wall-Street-Banken, der amerikanischen Federal Reserve Bank und internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, IWF und so weiter) geschlossen wurden. Im Jahr 1989 formalisierte der Chefökonom und Vizepräsident der Weltbank, John Williamson, den Konsens. Seine Grundprinzipien zielten darauf ab, so schnell wie möglich alle Regulierungsinstanzen zu beseitigen, staatliche wie auch andere, eine möglichst weitgehende Liberalisierung der Märkte (für Waren, Kapital, Dienstleistungen und so weiter) zu erreichen und letztlich zu stateless global governance zu gelangen, einem einheitlichen Weltmarkt, der sich vollständig selbst reguliert.
Das Konzept des stateless global governance wurde von Informatikern wie Alvin Toffler und Nicholas Negroponte entwickelt (vgl. Toffler, Machtbeben. Wissen, Wohlstand und Macht im 21. Jahrhundert, Düsseldorf 1990, und Negroponte, Total Digital, München 1995) und anschließend von mehreren Ökonomen der monetaristischen Chicagoer Schule aufgegriffen.
Ziel des Washingtoner Konsenses ist die Privatisierung der Welt durch die Umsetzung folgender Prinzipien:
- In jedem Land muss es eine Steuerreform nach den folgenden beiden Gesichtspunkten geben: Senkung der Steuerlast für die höchsten Einkommen, damit die Reichen produktive Investitionen tätigen; Ausweitung der Zahl der Steuerpflichtigen, das heißt Abschaffung von steuerlichen Vergünstigungen für die Ärmsten, um das Volumen der Steuereinnahmen zu vergrößern.
- Aufhebung aller Einschränkungen für die Finanzmärkte.
- Garantierte Gleichbehandlung von inländischen und ausländischen Investoren, um die Sicherheit der ausländischen Investitionen und damit ihr Volumen zu erhöhen.
- Möglichst weitgehende Zerschlagung des öffentlichen Sektors; alle Unternehmen im Besitz des Staates oder quasi-staatlicher Körperschaften sollen privatisiert werden wie etwa Schulen, Krankenhäuser, Verkehrsbetriebe, Wasser- und Energieversorgung und so weiter. Damit werden sie den Gesetzen des Profits unterworfen.
- Maximale Deregulierung der Volkswirtschaft, um das freie Spiel der Konkurrenz zwischen den verschiedenen ökonomischen Kräften zu gewährleisten.
- Verstärkter Schutz des Privateigentums.
- Rasche Liberalisierung des Handels mit dem Ziel, die Zölle immer weiter zu senken und schließlich ganz abzuschaffen.
- Da der Freihandel durch Exporte vorangetrieben wird, muss man in erster Linie die Entwicklung jener Wirtschaftsbetriebe fördern, deren Produktion in den Export geht.
- Abbau der staatlichen Haushaltsdefizite bis auf null.
- Staatliche Subventionen für private Akteure müssen überall gestrichen werden. Ein Beispiel: Die Staaten der Dritten Welt, die die Preise von Grundnahrungsmitteln subventionieren, um sie niedrig zu halten, müssen diese Politik aufgeben. Bei Staatsausgaben müssen solche Priorität haben, die in den Ausbau der Infrastruktur fließen und für die multinationalen Konzerne nützlich sind.
Der Neoliberalismus behauptet, die „Naturgesetze“ der Wirtschaft auszudrücken. Pierre Bourdieu urteilte unerbittlich über den Neoliberalismus im Allgemeinen und die Umsetzung des Washingtoner Konsenses im Besonderen: „Der Neoliberalismus ist eine Eroberungswaffe, er verkündet einen ökonomischen Fatalismus gegen den jeder Widerstand zwecklos erscheint. Er ist wie Aids: Er greift zuerst das Abwehrsystem seiner Opfer an.“ (Pierre Bourdieu, „Politik ist entpolitisiert“, Interview in Der Spiegel, Nr. 29, 2001.)
Und an anderer Stelle schreibt er: „All das, was man unter dem Begriff der ‚Globalisierung‘ fasst, ist keineswegs das Ergebnis zwangsläufiger ökonomischer Entwicklungen […] Diese Politik […] ist eine Politik der Entpolitisierung […] und zielt paradoxerweise darauf ab, die Kräfte der Ökonomie von all ihren Fesseln zu befreien, ihnen dadurch einen fatalen Einfluss einzuräumen und die Regierungen ebenso wie die Bürger den derart von ihren Fesseln ‚befreiten‘ Gesetzen der Ökonomie zu unterwerfen […] Der Eindruck von Schicksalhaftigkeit ist das Resultat permanenter Propaganda.“ (Pierre Bourdieu, Gegenfeuer 2, Kostanz 2001, S.62)
In der Geschichte der Ideen stellt diese Ideologie eine spektakulären Rückschritt dar. Ist tatsächlich alles schicksalhaft? Die Lüge ist krass, aber nützlich: Sie erlaubt den Herrschenden zu verschleiern, dass sie die Verantwortung für das tragen, was den von ihnen unterdrückten Völkern widerfährt.
Die Kapitalströme? Die weltweite Güterverteilung? Die Abfolge der technologischen Revolutionen und der Produktionsweisen? Man kann ihre Gesetzmäßigkeiten beobachten, aber man kann nicht den Anspruch erheben, ihren Lauf zu verändern. Denn all das hängt mit der „Natur“ der Wirtschaft zusammen. Wie der Astronom, der die Bewegung der Gestirne, die wechselnde Ausdehnung der Magnetfelder oder die Geburt und den Untergang von Galaxien beobachtet, misst, analysiert, betrachtet, kommentiert, wägt der neoliberale Banker die komplizierten Bewegungen von Kapital und Gütern ab.
Auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem oder politischem Gebiet eingreifen? Daran ist nicht zu denken, meine Herrschaften! Jeder Eingriff würde bestenfalls die freie Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte verzerren - schlimmstenfalls würde er sie blockieren.
Die Naturalisierung der Wirtschaft, ihre Verwandlung in eine Naturkraft, ist die ultimative List der neoliberalen Wahnidee.
Mehr in Jean Ziegler, Ändere die Welt, München 2015