Was ist die Selbstentfremdung?

Der schweizer Soziologe Jean Ziegler erwähnt immer wieder die Entfremdung des Menschen von seiner Menschlichkeit. Diese Entfremdung ist den allermeisten Menschen weder ein Begriff, noch geläufig und schon gar nicht bewusst. Deshalb erläutere ich sie kurz.

Entfremdung bedeutet, vereinfacht gesagt, nichts anderes, als dass uns gewisse unerwünschte Anteile unseres eigenen Selbst fremd geworden sind. Der Mechanismus, mittels dessen Entfremdung geschieht, nennt man Abspaltung. Die funktioniert, grob beschrieben, so:

Ein junger Mensch, dessen Eltern sein Selbst nicht vollumfänglich annehmen, wird unbewusst dazu gezwungen, diese unerwünschten Selbstanteile abzuspalten. Beispiel: Ein Kind beobachtet Ärger bei der Mutter. Er äußert sich. Er fragt, warum seine Mutter ärgerlich ist. Die Mutter antwortet nicht offen. Sie streitet sogar ab, ärgerlich zu sein. Damit weißt sie die Beobachtung des Kindes, sein eigenes Urteil, als falsch zurück.

Das Kind hat nun zwei Möglichkeiten. Es beharrt auf seiner Beobachtung, und riskiert die Zuwendung der Mutter. Oder es verwirft die eigene Beobachtung, und verdrängt in Zukunft ähnliche Empfindungen, um seine Mutter zufrieden zustellen.

Dieser Prozess verselbstständigt sich mit der Zeit. Das Kind weiß nicht, dass es etwas verdrängt, sondern hält sich selbst für gut und richtig. Die Mutter scheint es ja zu bestätigen.

Durch diesen früh erlernten und über die Zeit tief verinnerlichten Automatismus entwickeln Kinder keine eigenständige Urteilsfähigkeit. Der heranwachsende Mensch bleibt, bis er sich dessen bewusst ist, vielleicht sogar ein Leben lang, auf das Urteil einer Autorität angewiesen - im Verlangen nach Bestätigung seiner selbst.

Daraus resultiert Obrigkeitshörigkeit und Unterwerfungsbereitschaft, der Gehorsam. Der Gehorsam, (siehe Arno Gruen - Wider den Gehorsam), wirkt sich übrigens nach beiden Seiten aus: Man unterwirft die, welche man für schwächer hält, und leckt jenen die Füße, welchen man sich unterlegen meint.

Von derart geprägten Menschen ist kein eigenständiges Handeln wider den Gehorsam erwarten. Sie können das schlicht nicht, weil sie nicht lernen durften, ihren inneren Beobachtungen und Überzeugungen zu vertrauen. Sie sind von sich selbst, von ihrer eigenen Urteilsfähigkeit, getrennt, also von sich selbst entfremdet.

Mit einem erwachten Selbstbewusstsein formulierte es Sophie Scholl im Widerstand gegen den Nationalsozialismus so: „Wenn ich auch nicht viel von Politik verstehe, und auch nicht den Ehrgeiz habe, es zu tun, so habe ich doch ein bisschen ein Gefühl, was Recht und Unrecht ist … Und ich könnte heulen, wie gemein die Menschen auch in der großen Politik sind, wo sie ihren Bruder verraten um eines Vorteils willen … Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind.“

Zurück zu Jean Ziegler. Er sagt im Interview mit der Wirtschaftswoche:
"Das Bewusstsein der Menschen ist entfremdet. Das Solidaritätsbewusstsein, das Prinzip der Gegenseitigkeit, ich bin der andere, der andere bin ich, wie der Philosoph Ludwig Feuerbach so schön gesagt hat, zeichnet den Menschen aus. Eigentlich. Ich fürchte, dass diese Grundstruktur – die den Menschen von all den anderen Lebenswesen unterscheidet – durch die neoliberale Ideologie verschüttet ist. Das führt dazu, dass die Mehrheit der Menschen freiwillig gegen Solidarität für Schwächere stimmt. Und zum Teile – siehe die Schweiz – auch gegen ihre eigenen Interessen."