Gemeinschaftsbildung

„Der nächste Buddha wird nicht in Form eines Individuums erscheinen. Der nächste Buddha könnte die Form einer Gemeinschaft annehmen, einer Gemeinschaft, welche Mitgefühl und liebevolle Zuwendung übt, einer Gemeinschaft, welche ein achtsames Leben übt. Dies könnte unser wichtigster Beitrag sein für das Überleben der Erde.“
Thich Nhat Hanh

Es folgen Auzüge aus dem Buch Gemeinschaftsbildung von M. Scott Peck:

Kapitel 3: Die wahre Bedeutung von Gemeinschaft 

In unserer Kultur des schroffen Individualismus – in der wir normalerweise nicht wirklich ehrlich von uns selbst sprechen können, nicht einmal mit der Person, die neben uns auf der Kirchenbank sitzt, wissen wir nicht, was der Begriff ”Gemeinschaft“ bedeutet. Wir wenden ihn auf fast alle Ansammlungen von Individuen an – eine Stadt, eine Kirche, eine Synagoge, eine Bruderschaft, einen Wohnkomplex, eine berufliche Vereinigung – egal wie wenig diese Personen miteinander kommunizieren. Das ist eine falsche Anwendung des Wortes Gemeinschaft. Wollen wir es richtig anwenden, müssen wir es auf Gruppen von Personen beschränken, die gelernt haben ehrlich miteinander zu kommunizieren, deren Beziehungen tiefer gehen als die Masken des Gefasstseins, und die sich ernsthaft dazu verpflichten, ”gemeinsam zu feiern, zu trauern, sich aneinander zu freuen, die Lage der anderen zu teilen.“

Aber wie sieht eine derart besondere Gruppe eigentlich aus? Wie funktioniert sie? Wie lässt sich Gemeinschaft wirklich definieren? Mir fällt die Analogie eines Edelsteins dazu ein. Die Samen von Gemeinschaft liegen in der Menschheit, dieser sozialen Gattung selbst, sowie ein Edelstein ursprünglich unter der Erde liegt. Aber dort ist es noch kein Edelstein, nur ein potenzieller. Geologen nennen einen ungeschliffenen Edelstein deshalb einfach nur einen Stein. So etwa, wie ein Stein zum Edelstein wird, entsteht aus einer Gruppe eine Gemeinschaft, nämlich durch einen Prozess des Behauens und Schleifens. Wenn er dann einmal behauen und geschliffen ist, wird er zu einem Kleinod. Um seine Schönheit jedoch zu beschreiben, können wir bestenfalls seine Facetten beschreiben. Gemeinschaft hat, wie der Edelstein, viele Facetten, wobei jede Facette nur ein Aspekt eines Ganzen ist, das man nicht beschreiben kann.

Noch eine Warnung. Der Edelstein Gemeinschaft ist so außerordentlich schön, dass er uns unwirklich erscheinen kann, ähnlich wie ein Traum, den wir als Kind einmal geträumt haben, und der uns so schön vorkam, dass er uns unerreichbar erschien.

Wie Bellah und seine Co-Autoren es ausdrückten, ”kann man dem Begriff Gemeinschaft auch Widerstand leisten, weil er so absurd und utopisch erscheint, als plane man die perfekte Gesellschaft. Doch die Transformation, von der wir hier sprechen, ist bescheidener und dringend notwendig. Ohne diese Wandlung wird es vielleicht kaum mehr Zukunft geben, um überhaupt darüber nachdenken zu können.“

Das Problem ist, dass das Fehlen von Gemeinschaft in unserer Gesellschaft so die Norm ist, dass jemand ohne Erfahrung versucht sein kann zu denken: ”Wie soll es uns möglich sein, von da, wo wir stehen, dort hinzugelangen?“ Es ist aber möglich; wir können dorthin kommen, von hier aus. Erinnern wir uns daran, dass es dem unerfahrenen Auge unmöglich ist, in einem Stein den Edelstein zu sehen.

Einschließlichkeit


Gemeinschaft ist und muss einschließend sein. Der große Feind von Gemeinschaft ist das Ausschließen. Gruppen, die andere ausschließen, weil diese arm sind, oder Zweifler, oder geschieden, oder Sünder, oder einer anderen Rasse oder Nationalität angehören, sind keine Gemeinschaften. Sie sind Cliquen – in der Tat defensive Bastionen gegen Gemeinschaft. In meiner ersten Gemeinschaftserfahrung in der Friends-Schule waren die Grenzen zwischen den Klassen, zwischen Schülern und Lehrern, jung und alt immer ”weich“. Es gab keine Grüppchen am Rand, keine Ausgeschlossenen. Alle waren willkommen bei unseren Partys. Es gab keinen Druck zum Konformismus.

Der Wille nach Einschließlichkeit jeder echten Gemeinschaft bezieht sich auf alle ihre Parameter. Es gibt einen Wunsch nach ”Gesamtheit“. Das ist nicht nur eine Frage der Geschlechter, Rassen und Glaubensrichtungen. Die Gesamtheit bezieht sich auch auf das ganze Spektrum menschlicher Emotionen. Tränen sind ebenso willkommen wie Lachen, Angst ebenso wie Glauben. Genauso verschiedene Stile: Falken und Tauben, Hetero- und Homo- sexuelle, Redelustige und Schweigsame. Alle menschlichen Unterschiede sind eingeschlossen. Jede ”sanfte“ Individualität wird genährt.

Wie ist das möglich? Wie können derartige Unterschiede absorbiert werden, derart verschiedenartige Menschen zusammenleben? Entscheidend ist die Verbindlichkeit bezogen auf das ”Zusammenleben-Wollen“. Früher oder später – je früher desto besser – müssen sich die Mitgliedereiner Gruppe füreinander entscheiden, wenn sie eine Gemeinschaft werden oder bleiben wollen.

Ausschließlichkeit, der große Feind von Gemeinschaft, erscheint in zwei Formen: andere ausschließen, und sich selbst ausschließen. Wenn wir zudem Schluss kommen, zu sagen, ”also diese Gruppe ist einfach nichts für mich – da gibt’s zu viele von diesen oder von jenen – am besten packe ich meine Sachen und geh wieder“, wäre das ebenso destruktiv für eine Gemeinschaft wie es für eine Ehe wäre zu sagen ”Das Gras auf der anderen Seite vom Zaun sieht halt ein bisschen grüner aus, und deshalb ziehe ich einfach weiter“. Gemeinschaft und Ehe verlangen von uns, dass wir es ein bisschen aushalten, wenn es ungemütlich wird. Beides verlangt ein gewisses Maß an Verbindlichkeit.

Verbindlichkeit


Es ist kein Zufall, dass Bellah und seine Co-Autoren ihr Werk ”Individualismus und Verbindlichkeit im amerikanischen Leben“ betitelt haben. Unser Individualismus muss durch Verbindlichkeit ausgeglichen werden. Wenn wir durchhalten, merken wir normalerweise nach einer Weile, dass die ”unebenen Stellen eingeebnet worden sind“. Ein Freund von mir definierte Gemeinschaft ganz richtig als ”eine Gruppe, die gelernt hat, über ihre individuellen Unterschiede hinauszugehen“. Aber dieses Lernen braucht seine Zeit. Zeit, die nur durch Verbindlichkeit erkauft werden kann.

”Hinausgehen über“ heißt nicht ”auslöschen“ oder ”zerstören“. Das Gelingen von Gemeinschaft kann mit dem Erklimmen eines Berggipfels verglichen werden. Vielleicht ist der wichtigste Schlüssel zum Erreichen dieses Ziels das Anerkennen von Unterschieden. In Gemeinschaft werden menschliche Unterschiede nicht ignoriert, verleugnet, versteckt oder verändert, sondern sie werden geschätzt. Erinnert euch daran, wie ich dazu kam, Lilys ”Gabe des Fließens“ und sie meine ”Organisationsgabe“ zu schätzen. Die Ehe ist natürlich eine kleine Zweiergemeinschaft auf lange Zeit.

Konsens


Echte Gemeinschaft ist uns so fremd, dass wir nie einen passenden Wortschatz für ihre Außergewöhnlichkeit entwickelt haben. Wenn wir uns den Kopf zerbrechen darüber, wie individuelle Unterschiede ins Ganze integriert werden können, dann fangen wir ganz automatisch (weil es das Einfachste ist) an, nach dem stärksten individuellen Anführer Ausschau zu halten. Differenzen, wie zum Beispiel bei sich zankenden Geschwistern, glauben und hoffen wir instinktiv durch einen Papa oder eine Mama – also durch einen gutartigen Diktator – auflösen zu können.

Doch ist Gemeinschaft, die Individualität stärkt, niemals totalitär. Deshalb klammern wir uns an einen weniger primitiven Weg, individuellen Differenzen zu begegnen, den wir Demokratie nennen. Wir schreiten zur Wahl, und die Mehrheit bestimmt, welche Unterschiede vorherrschen. Die Mehrheit regiert. Aber dieser Prozess grenzt die Wünsche der Minderheit aus. Wie können wir Unterschiede überwinden, und dabei die Minderheit einbeziehen? Das scheint eine knifflige Frage zu sein. Wie und wo können wir weiter gehen als Demokratie?

In den echten Gemeinschaften, in denen ich Mitglied war, sind bestimmt über tausend Entscheidungen getroffen worden, ohne dass jemals Abstimmungen stattgefunden hätten. Ich habe noch nie einer Abstimmung beigewohnt. Ich meine damit nicht, dass wir die demokratische Maschinerie oder Organisation als solche abschaffen sollten. Sondern ich möchte andeuten, dass Gemeinschaft, indem sie individuelle Unterschiede überwindet, regelmäßig über Demokratie hinausgeht. Im Vokabular dieses Prozesses steht uns bis jetzt nur das Wort ”Konsens“zur Verfügung. In jeder echten Gemeinschaft werden Entscheidungen durch Konsens getroffen, also durch einen Prozess, der einer Gemeinschaft von Geschworenen nicht unähnlich ist, für die Entscheidungen im Konsens Pflicht sind.

Trotzdem, wie kann es für eine Gruppe, die zur Individualität ermutigt, in der individuelle Unterschiedlichkeiten gut gedeihen, normal sein, zum Konsens zu kommen? Selbst wenn wir eine reichere Sprache für Gemeinschaftsprozesse entwickeln, bezweifle ich, dass wir je eine Formel für den Konsensprozess haben werden. Dieser Prozess ist in sich ein Abenteuer. Er hat etwas fast Mystisches, Magisches an sich. Aber er funktioniert. Und die anderen Aspekte von Gemeinschaft werden uns Hinweise dafür geben, wie das sein kann.

Realismus


Ein zweites Kennzeichen von Gemeinschaft ist, dass sie realistisch ist. Zum Beispiel, wenn Lily und ich in der Gemeinschaft der Ehe ein Thema besprechen, das mit einem der Kinder zu tun hat, kommen wir zu einer Antwort, die realistischer ist, als überlegte jeder für sich allein. Schon aus diesem Grund glaube ich, dass es für allein erziehende Eltern äußerst schwierig sein muss, angemessene Entscheidungen in Bezug auf ihre Kinder zutreffen. Selbst wenn Lily und ich zu zweit verschiedenen Ansichten gelangen, werden sich diese gegenseitig beeinflussen. Eine größere Gemeinschaft von sechzig Menschen kann normalerweise mit einem Dutzend verschiedener Standpunkte aufwarten. Der daraus resultierende Konsens-Eintopf ist normalerweise viel kreativer als ein Gericht aus nur zwei verschiedenen Zutaten jemals sein könnte.

Wir sind daran gewöhnt, Gruppenverhalten als primitiv zu betrachten. Aber zu selten sind Gruppen wirkliche Gemeinschaften. Zwischengewöhnlichen Gruppen und wirklichen Gemeinschaften liegt mehr als ein Quantensprung; es handelt sich in der Tat um völlig verschiedene Phänomene.

Bescheidenheit


Während schroffer Individualismus zu Arroganz neigt, führt der sanfte Individualismus der Gemeinschaft zu Bescheidenheit. Wenn wir anfangen, die Talente anderer zu schätzen, beginnen wir unsere eigenen Grenzen zu erkennen. Wenn wir Zeugen von der Unzulänglichkeit anderer werden und diese teilen, werden wir dadurch fähig, unsere eigene Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit anzunehmen. Wenn wir uns der Vielfalt der Menschheit bewusst werden, können wir die Abhängigkeit voneinander annehmen. Wenn eine Gruppe von Menschen hierzu bereit ist – und sich somit mehr und mehr zu einer Gemeinschaft entwickelt –wird sie immer bescheidener, nicht nur die einzelnen Mitglieder, sondern die Gruppe als Ganzes – und somit immer realistischer. Von welcher Art von Gruppe erwarten wir weise, wirklichkeitsnahe Entscheidungen – von einer arroganten, oder einer bescheidenen?

Reflektieren 


Einer der Gründe dafür, dass eine Gemeinschaft bescheiden und deswegen realistisch wird ist, dass sie fähig und bereit ist, zu reflektieren. Sie prüft sich selbst. Sie nimmt sich selbst wahr. Sie kennt sich. ”Erkenne dich selbst“ ist ein sicheres Zeichen für Bescheidenheit. In "Die Wolke des Nichtwissens", einem Klassiker aus dem vierzehnten Jahrhundert über Kontemplation (im Sinne von ”beschaulichem Nachdenken und geistigem sich in etwas versenken“) heißt es: ”Weichherzigkeit ist nichts anderes als das wahre Kennen und Erfühlen eines menschlichen Selbst, wie es wirklich ist. Ein Mensch, der sich ehrlich sieht und fühlt, ganz so, wie er ist, muss auch weichherzig sein.“

Das Wort ”betrachten“ hat viele Bedeutungen. Fast alle haben mit Bewusstsein zu tun. Das eigentliche Ziel von Kontemplation ist gesteigertes Bewusstsein von der Welt außerhalb von einem Selbst, von der innerenWelt und der Beziehung zwischen den beiden. Ein Mensch, der sich mit einem relativ limitierten Bewusstsein seiner Selbst zufrieden gibt, kann nicht ”kontemplativ“ genannt werden. Es ist auch fraglich, ob er als psychologisch reif und emotional gesund bezeichnet werden kann. Selbstprüfung ist der Schlüssel zu Einsicht, was wiederum der Schlüssel zur Weisheit ist. Platon hat das klar ausgedrückt: ”Ein Leben, das nicht reflektiert wird, ist nicht wert gelebt zu werden.“

Der Prozess von Gemeinschaftsbildung verlangt Selbstprüfung von Anfang an. In dem Maße, wie die Mitglieder mehr über sich selbst reflektieren, lernen sie, über die Gruppe zu reflektieren. ”Wie geht es uns ?“ fangen sie an, sich immer häufiger zu fragen. ”Sehen wir noch immer unser Ziel vor Augen? Sind wir eine gesunde Gruppe? Haben wir den Gemeinschaftsgeist verloren?“

Ein sicherer Ort


Es ist kein Zufall, dass ich ”die verloren gegangene Kunst des Weinens“ im Alter von 36 Jahren wieder erlernte, während ich mich in einer gemeinschaftlichen Umgebung aufhielt. Trotzdem ist mein frühes Training in schroffem Individualismus noch heute so stark, dass ich vor vielen Menschen nur dann weinen kann, wenn mir der Ort als sicher erscheint. Immer wenn ich mich in Gemeinschaft begebe, ist in der Tat das ”Geschenk der Tränen“ eine meiner Freuden.

So etwas wie augenblickliche Gemeinschaft gibt es unter normalen Umständen nicht. Es kostet eine Gruppe von Unbekannten viel Arbeit, bis sie die Sicherheit echter Gemeinschaft fühlt. Aber wenn es gelingt, öffnen sich sozusagen die Schleusentore. Sobald die Menschen aus vollem Herzen sprechen können, sobald die meisten Mitglieder wissen, dass man ihnen zuhört, und dass sie um ihrer selbst willen akzeptiert werden, ergießen sich jahrelang angestaute Frustration, Verletztheit, Schmerz, Schuld und Trauer nach außen. Und dieser Prozess beschleunigt sich mehr und mehr. Verletzbarkeit vervielfältigt sich in Gemeinschaften.

Sind ihre Mitglieder erst einmal verletzbar geworden, weil sie sich angenommen fühlen, werden sie immer verletzbarer. Die Mauern bröckeln und brechen nieder. Und in dem Maße, wie sie niederfallen und wahre Liebe und gegenseitigesAnnehmen entstehen, beginnen wahre Heilung und Verwandlung. Alte Wunden fangen an zu heilen, alter Groll wird vergessen, alte Widerstände werden überwunden. Angst wird durch Hoffnung ersetzt.

So sind Heilung und Verwandlung weitere Charakteristiken von Gemeinschaft. Doch habe ich bewusst diese Eigenschaften nicht als Punkte aufgelistet, da die Subtilität dieses Prozesses leicht missverstanden werden kann. Denn Tatsache ist, dass unsere menschlichen Bemühungen, andere zu heilen und umzuwandeln, Gemeinschaft eher verhindern. Der Mensch trägt in sich eine natürliche Sehnsucht, ja, einen Drang nach Gesundheit, Ganzheit und Heiligkeit. Doch werden dieser Drang, diese Energie, meistens von Angst zurückgehalten oder durch Verteidigungsmechanismen und Widerstände aufgehoben. Aber wenn man Menschen einen wirklich sicheren Platz bietet, wo diese Art von Verteidigungsmechanismen und Widerständen nicht länger notwendig sind, wird der Drang nach Gesundung befreit.

Wenn wir uns sicher fühlen, haben wir eine natürliche Tendenz, uns zu heilen und zu wandeln. Paradoxerweise kommt eine Gruppe von Menschen erst dann ins Stadium des sich Heilens und sich Umwandelns, nachdem ihre Mitglieder gelernt haben damit aufzuhören, sich heilen und umkrempeln zu wollen.

Echte Gemeinschaft ist ein sicherer Platz, weil niemand versucht, dich zuheilen, zu verändern, in Ordnung zu bringen. Du bist frei du selbst zu sein! Und weil du so frei bist, brauchst du keine Verteidigungsmechanismen mehr, keine Masken, keine Verkleidungen. Du bist frei, deine eigene psychologische und spirituelle Gesundung zu suchen, frei, dein eigenes ganzes, heiliges Selbst zu werden.

Persönliche Abrüstung 


Eine Gemeinschaft ist ein Amphitheater, wo die Gladiatoren Waffen und Rüstung abgelegt haben, wo sie gut im Zuhören und Verstehen geworden sind, wo sie ihre Gaben gegenseitig schätzen und ihre Grenzen akzeptieren, wo sie ihre Unterschiedlichkeiten feiern und sich gegenseitig ihre Wunden verbinden, wo sie sich vorgenommen haben, miteinander zu kämpfen anstatt gegeneinander. Es ist wirklich ein sehr ungewöhnlicher Kampfplatz. Doch gerade deswegen ist Gemeinschaft ein guter Platz, um Konflikte zu lösen. Dies ist von höchster Bedeutung.

In dieser Welt gibt es sehr reale Konflikte, von denen die wenigsten gelöst zu werden scheinen. Aber es gibt da eine Wunschvorstellung. Vereinfacht ausgedrückt heißt sie: ”Wenn wir unsere Konflikte auflösen können, werden wir eines schönen Tages eine große Gemeinschaft sein.” Aber könnte es sein, dass wir das Pferd am Schwanz aufzäumen? Und dass der Traum in Wahrheit heißt: ”Wenn wir in Gemeinschaft zusammenleben können, dann wird es uns auch eines Tages gelingen, unsere Konflikte beizulegen.“

Verletzbarkeit ist keine Einbahnstraße. Gemeinschaft verlangt von uns die Fähigkeit, unseren Mitmenschen unsere Wunden und Schwächen zu zeigen. Sie verlangt auch, dass wir uns von den Wunden anderer berühren, ja, verletzen lassen. Das ist es, was diese Frau mit ”weichen Augen“ meinte. In unseren Wunden ist Schmerz. Doch noch wichtiger ist die Liebe, die zwischen uns erfahrbar wird, wenn wir einander gegenseitig unsere Verletztheit zeigen.

Trotzdem kann nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Art des ”Mitteilens“ in unserer Kultur ein Risiko birgt, nämlich das Risiko, sich nicht an die Norm der angeblichen Unverletzbarkeit zu halten. Für die meisten von uns ist das eine neue – und scheinbar potenziell gefährliche – Form des Verhaltens.

Im Laboratorium


Es mag seltsam erscheinen, von Gemeinschaft als Laboratorium zu sprechen. Unter diesem Wort versteht man landläufig einen sterilen Ort, der nicht mit Weichem, sondern mit ”Hardware“ gefüllt ist. Doch kann man ein Laboratorium auch als einen Ort bezeichnen, der dafür geschaffen ist, Experimente in Sicherheit durchzuführen. Wir brauchen solche Plätze, denn wenn wir experimentieren, testen wir neue Wege des Handelns.

So ist das mit Gemeinschaft: Sie ist ein sicherer Ort, um mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren. Wenn Menschen ein solcher sicherer Ort geboten wird, beginnen sie auf ganz natürliche und tiefergehende Weise mit Vertrauen und Liebe zu experimentieren. Sie lassen ihre normalen Verteidigungsmechanismen, ihre Ängste, ihre Schranken aus Misstrauen, Angst, Ressentiments und Vorurteilen beiseite. Sie experimentieren mit Frieden – mit Friedfertigkeit in ihnen selbst und in der Gruppe. Und sie entdecken, dass das Experiment funktioniert.

Ein Experiment dient dazu, uns neue Erfahrungen zu gestatten, aus denen wir neue Erkenntnisse schöpfen können. Auf diese Weise entdecken die Mitglieder einer echten Gemeinschaft, wenn sie sich persönlich entwaffnen, auf experimentelle Weise die Regeln des Friedensschließens und erfahren seine Qualitäten. Das ist eine so starke persönliche Erfahrung, dass sie zu einer treibenden Kraft werden kann, die auf der ganzen Welt Frieden stiften möchte.

Im Workshop


Wie sehr sich die Kommunikation in Gemeinschaft von unserer "normalen" Kommuniktation unterscheidet, wird an den Kommunikationsempfehlungen für Gemeinschaftsbildung deutlich:
  • Sei pünktlich zu jeder Gesprächsrunde. 
  • Sag Deinen Namen, bevor Du sprichst. 
  • Sprich in der ICH – Form. 
  • Sprich von Dir und Deiner momentanen Erfahrung. Erforsche Dich, doziere nicht, rechtfertige Dich nicht.
  • Verpflichte Dich, am Ball zu bleiben, dran zu bleiben. Bleibe bis zum Ende jeder Runde.
  • Schließe ein – vermeide, jemanden auszuschließen. 
  • Drücke Dein Missfallen in der Gruppe aus, nicht außerhalb des Kreises. 
  • Sei verantwortlich für Deinen persönlichen Erfolg - was Du für Dich aus der Runde oder dem Workshop herausholst. 
  • Sei beteiligt mit Worten oder ohne Worte. 
  • Sei emotional anwesend in der Gruppe. 
  • Höre aufmerksam und mit Respekt zu, wenn eine andere Person Dir etwas mitteilt. Formuliere nicht schon eine Antwort, während der andere spricht. 
  • Respektiere absolute Vertraulichkeit. 
  • Erkenne den Wert von Stille und Schweigen in Gemeinschaft. 
  • Gehe ein Risiko ein! 
  • Höre auf Deine innere Stimme und sprich, wenn Du dazu bewegt bist, sprich nicht, wenn Du nicht dazu bewegt bist. 
  • Fasse Dich kurz. 
  • Keine Fragen, keine Ratschläge ‐ jeder spricht nur über sich selbst. 
  • Bitte keinen Alkohol während des Workshops.

Links


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