"Hier gibt es verschiedene Hauptprobleme, Probleme, über deren Bedeutung für das Kaiserreich ich nur Vermutungen anstellen kann.
Erstens sind diejenigen an der Macht mehr an ihrer eigenen Größe als am Wohlergehen des Kaiserreichs interessiert. Und da sie es sind, die nach außen hin für den flüchtigen Beobachter, das Kaiserreich verkörpern, ist es nicht schwer, das zu übersehen."
"Was meinst du damit?" fragte der ältere Magier.
"Wenn du an die Weltgeschichte denkst, an was denkst du dann? An die Geschichte von Armeen, die über Landesgrenzen hinweg Krieg führen? Oder an den Aufstieg der Versammlungen? Vielleicht erinnerst du dich auch an eine Chronik der Herrscher? Was es auch ist, höchstwahrscheinlich wird die eine, einzige und offensichtlichste Wahrheit übersehen. Das Kaiserreich, das sind all jene, die innerhalb seine Grenzen leben, von den Adligen bis herab zu den einfachsten Dienern, selbst die Sklaven, die auf den Feldern arbeiten, gehören dazu. Es muss als ein Ganzes gesehen werden. Es wird nicht durch einen kleinen, sichtbaren Teil verkörpert wie zum Beispiel durch den Kriegsherrn oder den Hohen Rat. Verstehst du das?"
"Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube schon ... fahre fort."
"Wenn das wahr ist, dann denke über den Rest nach. Zweitens darf es niemals eine Zeit geben, in der das Bedürfnis nach Stabilität das nach Wachstum und Größe übertrifft."
"Aber wir sind immer größer geworden!" wandte der Ältere ein.
"Das stimmt nicht", widersprach der Jüngere. "Ihr habt eure Grenzen ausgedehnt, und das sieht dann aus wie Größe, wenn man nicht genauer nachforscht. Aber während eure Armeen euch neues Land einverleibt haben, was ist in dieser Zeit aus eurer Kunst, eurer Musik, eurer Literatur und Forschung geworden? Selbst die Versammlung tut kaum mehr, als alles das zu verfeinern, was bereits bekannt ist. Du hast vorhin gesagt, dass ich meine Zeit verschwende mit der Suche nach neuen Wegen. Nun was ist daran nicht in Ordnung? Da stimmt alles. Aber es stimmt etwas nicht mit einer Gesellschaft, wenn sie auf alles Neue nur mit Mißtrauen blickt.
Schau dich doch um. Eure Künstler sind entsetzt, wenn etwas Neues hinzukommt. Eure Musiker verbringen all ihre Zeit damit, die alten Lieder zu lernen. Sie spielen sie perfekt, auf die Note genau, aber niemand komponiert neue oder wenigsten hübsche Abwandlungen der jahrhundertealten Melodien. Niemand schafft neue Epen. Sie erzählen nur immer wieder die alten. Euer Volk stagniert. Der Krieg ist nur ein Beispiel dafür. Er ist ungerechtfertigt. Er wird nur aus Gewohnheit geführt, um gewisse Gruppen an der Macht zu halten, um Reichtum für jene anzuhäufen, die bereits reich sind, und um das Spiel des Rates zu spielen. Und die Kosten! Jahr für Jahr werden Tausende von Leben vergeudet, das Leben derjenigen, die das Kaiserreich *sind*, seiner eigenen Bürger. Das Kaiserreich ist ein Kannibale, der seine eigenen Bürger verschlingt."
Der ältere Magier war beunruhig von dem, was er das hörte, denn es stand im totalen Gegensatz zu dem, was er zu sehen glaubte: einer lebendigen, energischen Kultur.
"Drittens: Wenn es meine Pflicht ist, dem Kaiserreich zu dienen, und wenn die soziale Ordnung des Kaiserreichs für seine Stagnation verantwortlich ist, dann ist es auch meine Pflicht, die soziale Ordnung zu ändern, selbst wenn ich sie dabei zerstören muss."
"Ich verstehe, was du sagst, aber das wovon du sprichst, ist zu vielschichtig, um sofort verstanden zu werden."
Die Stimme des jüngeren nahm einen beruhigenden Ton an. "Ich will damit nicht sagen, dass die Zerstörung der jetzigen Sozialen Ordnung die einzig mögliche Lösung wäre. Ich habe das nur gesagt, um dich zu schockieren und meinen Standpunkt klarzumachen. Aber wenn ich zu einer Entscheidung komme, was getan werden muss, dann werden ich handeln."
Raymond Feist, Die Midkemia-Saga 2: Der verwaiste Thron, München 1982