Mehr Freude!

Im deutschsprachigen Raum hat das Spazierengehen eine kulturelle Tiefe, die weit über das körperliche Bewegen hinausgeht. Ich denke dabei eher an eine Haltung, nämlich die Bereitschaft, sich auf den Weg zu machen, sich der Veränderung und dem Aussen anzuvertrauen und darauf zu vertrauen, dass das Leben einen führt. Der «Taugenichts» ist ein romantisch verklärtes Bild für diese Haltung. Die in der deutschen Kultur tief verwurzelte Tradition der Wanderschaft nach der Lehre symbolisiert den Aufbruch in die Welt, über das Bekannte hinaus.

Das Lied «Geh aus, mein Herz, und suche Freud» beschreibt einen ähnlichen Akt: das Heraustreten aus der Enge des Ichs, aus der Geschlossenheit der eigenen Gedankenwelt - hin zur Welt, zur Schöp-fung, zur lebendigen Gegenwart. Es ist ein poetischer Aufruf zur Selbsttranszendenz, getragen von einer geistigen Offenheit für das, was ist.

Freiheit ist hier nicht Abgrenzung, sondern Ent-grenzung. Die Freiheit des Menschen zeigt sich nicht im Rückzug, sondern in der Bereitschaft zur Begegnung. In der Bewegung nach aussen wird das Ich durchlässig und erfährt sich neu - als Teil eines grösseren Ganzen. Und die Methodik dieses Freiheitsansatz ist ganz einfach - Freude.

Das klingt erstmal banal. Vielleicht auch ein bisschen einfach. Und fast ein bisschen unseriös, weil Freude vielleicht dem ernsten Anspruch eines Schulalltags und des Lernens widerspricht. Aber anders als Vergnügen ist Freude kein passives Konsumgut, sondern ein aktives Lebensprinzip - ein Motor menschlicher Selbstverwirklichung (Erich Fromm) und, wie Schiller sagt, ein nährendes Naturprinzip («Ode an die Freude»).

Freude ist eine innere Haltung: die Bereitschaft, sich berühren zu lassen, zu staunen, sich einzulas-sen. Sie ist die Voraussetzung für wirkliches Ler-nen. Wenn ich an meinen Unterricht denke, wird mir klar: Freude ist der Impuls, der Verbindung schafft - zur Klasse, zu einzelnen Schülerinnen und Schülern, zum gemeinsamen Tun. Und sie ist das, was bleibt, wenn etwas gelungen ist.
Die Freude ist Ursprung und Frucht jeder echten Lernbewegung. Sie öffnet uns für das, was uns be-gegnet, und wächst zugleich aus dieser Offenheit heraus.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es mich, wie selten die Schule ein Ort der Freude ist. Ihr Fehlen ist besonders deutlich spürbar im Lehrerzimmer, in Besprechungen, bei Vorbereitungen und in kurzen Gesprächen auf dem Flur. Ich weiss ja nicht, wie es an eurer Schule ist. Aber an meiner Schule ist Freude eher nebensächlich und glänzt zu häufig durch Abwesenheit. Mir scheint, dass es nicht nur bei uns so ist.

Die grosse Anzahl von Ratgebern mit Titeln wie «Die eigene Freude wiederfinden» oder «Wie aus Arbeit Freude wird» lässt mich vermuten, dass fehlende Freude ein weit verbreitetes Phänomen ist. Betrachtet man die Kernbotschaft dieser Rat-geber, stellt man immer wieder fest: «Tu das, was du gerne tust.» Eine einfache Botschaft. Und in ihrem Umkehrschluss weist sie auf das Kernproblem hin. Wir sind überwiegend fremdbestimmt von Dingen, Vorgaben, Ansichten usw.

Die Begegnung mit Edu erinnert mich an etwas, das ich oft vergesse: Wir sind nicht hier, um zu funktionieren, sondern um frei zu sein. Und Freiheit beginnt dort, wo wir dem folgen, was uns wirklich Freude macht. 

--- 

Text: Henrik Löning, in Schulkreis 2025 

Neue Wege in der Selbstverwaltung

Für die Selbstverwaltung wird ebenfalls nach neuen Wegen gesucht. In einer dezentralen Organisationsstruktur werden Aufgaben in Kreise delegiert, die mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind. Neue Entwicklungen sollen nicht durch generelle Mehrheitsentscheidungen verhindert werden können, deshalb wurde das soziokratische Verfahren für Entscheidungsfindungen und Konferenzstrukturen übernommen und weiterentwickelt. Gute Erfahrungen hat das ganze Team damit gemacht, Ziele und Konzepte immer wieder an den realen Gegebenheiten neu auszurichten. In der Wirtschaft spricht man bei diesem Prinzip vom ressourcenorientierten «Effectuation» im Gegensatz zum zielorientierten Management. Der deutsche Begriff ist jedoch aussagekräftiger und lautet: Unternehmenskunst. Das ist auf der Ebene der Organisationsentwicklung das Pendant zu dem, was Steiner «Erziehungskunst» genannt hat. Es ist letztendlich eine Kunst, Konzepte erst aus dem erwachsen zu lassen, was konkret vorhanden ist – nicht, weil es so schön, sondern weil es so schwer ist ...

www.loberthal.de

https://handlungspaedagogik.org

--- 

Schulkreis, Die Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz, Sommer 2025, Lernen in offener Landschaft, Gut Loberthal entwickelt eine Handlungspädagogik für die Grossstadt, Marcus Erb-Szymanski, S.25 

Handlungspädagogischer Studiengang

Zusammen mit den anderen Handlungspädagogischen Schulen «Hofschule Pente» und «Dorfschule Wismarer Land» hat Gut Loberthal einen dualen Ausbildungsgang entwickelt, der es Studierenden ermöglicht, in zwei Jahren eine waldorfpädagogische Ausbildung mit handlungspädagogischem Profil zu absolvieren. Dazu arbeiten die Studierenden für zwei Jahre als Assistenzlehrer an einer der Schulen mit und absolvieren neben einem wöchentlichen Nachmittagsseminar zusätzlich sechs Blockwochen wechselweise an den verschiedenen Schulen. Diese Blockwochen dienen den Schulen darüber hinaus als gemeinsame Weiterentwicklung und Evaluation des handlungspädagogischen Konzepts, das sich je nach Lokalität auf eigene Weise fortentwickelt. Der Ausbildungsgang wird von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und der Software AG Stiftung unterstützt, so dass anfänglich sogar Stipendien für die Studierenden ausgezahlt werden können.

www.loberthal.de

https://handlungspaedagogik.org

--- 

Schulkreis, Die Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz, Sommer 2025, Lernen in offener Landschaft, Gut Loberthal entwickelt eine Handlungspädagogik für die Grossstadt, Marcus Erb-Szymanski, S.25 

Vorwärts in die Vergangenheit?

Rousseau gab zu, daß der ideale «Naturzustand ... vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich nie existieren wird» Er stellte diesen Zustand nicht als eine historische Tatsache dar, sondern als einen Vergleichsmaßstab. Das ist es, was er mit dem verblüffenden Vorschlag meinte: 

«Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten, denn sie berühren nicht die Frage. Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen.»

Wir können uns jedoch eine Vorstellung vom Leben der Menschen vor der Entstehung sozialer Organisationen machen, indem wir den Zustand und das Verhalten neu entstandener Staatskörper beobachten, denn «Staaten von heute verbleiben in einem Naturzustand» - jeder für sich souverän und in Wirklichkeit keine Gesetze kennend als diejenigen der List und der Gewalt; wir können annehmen, daß der präsoziale Mensch in einem ähnlichen Zustand individueller Souveränität, Unsicherheit, des kollektiven Chaos und wechselseitiger Gewalt lebte. 

Rousseaus Ideal war nicht eine solche imaginäre präsoziale Existenz (denn die Gesellschaft ist vielleicht so alt wie der Mensch), sondern ein späteres Stadium der Entwicklung, in dem die Menschen in patriarchalischen Familien und Stammesgruppen lebten und das Privateigentum noch nicht eingeführt hatten. 

«Die älteste und einzig natürliche Form aller Gesellschaften ist die Familie.» Dies war die Zeit höchsten Glückes für die Menschheit; sie hatte Fehler, Schmerzen und Strafen, doch sie hatte keine Gesetze außer der elterlichen Autorität und der Familiendisziplin; 

«Es war der beste Zustand für den Menschen. Er konnte ihn nur infolge irgendeines verhängnisvollen Zustandes verlassen.»

Dieser Zufall war die Einführung des Privateigentums, aus dem die ökonomische, politische und soziale Ungleichheit erwuchs und die meisten der übel des modernen Lebens.

Aus dieser zugelassenen rechtswidrigen Besitzergreifung entstand der vielfältige Fluch der Kultur: Klasseneinteilung, Sklaverei, Leibeigenschaft, Neid, Raub, Krieg, legale Ungerechtigkeit, politische Korruption, kaufmännische Übervorteilung, Erfindungen, Wissenschaft, Literatur, Kunst, «Fortschritt» - mit einem Wort, Entartung.

Um das Privateigentum zu schützen, wurde die Gewalt organisiert und entstand der Staat; um das Regieren zu erleichtern, wurde das Recht entwickelt, um den Schwachen daran zu gewöhnen, sich dem Starken mit einem Minimum an Gewalt und Aufwand zu unterwerfen. 

So kam es, daß «man eine Handvoll Mächtiger und Reicher gerade deshalb auf dem Gipfel der Größe und des Glückes sieht, während die Masse in Dunkelheit und Elend dahinkriecht». 

Zu diesen Grundungleichheiten kommen viele abgeleitete Ungleichheiten: «Schändliche Methoden werden angewandt, um Geburten zu verhindern», Abtreibung, Kindermord, Kastration, Perversionen, «Aussetzung oder Tötung von zahlreichen Kindern, die Opfer der Armut ihrer Eltern werden».

Alle diese Übel wirken demoralisierend, sie sind den Tieren unbekannt, sie machen die «Kultur» zu einem Krebsgeschwür am Körper der Menschheit. Im Vergleich zu dieser vielgestaltigen Korruption und Perversität ist das Leben der Wilden gesund, vernünftig und human.

Sollen wir deshalb zur Barbarei zurückkehren? Müssen die Gesellschaften vollkommen abgeschafft werden? Müssen Mein und Dein abgeschafft werden und müssen wir in die Wälder zurückkehren, um unter den Bären zu leben? Das ist uns nicht mehr möglich; das Gift der Kultur ist in unserem Blut, und wir werden es nicht ausrotten durch die Flucht in die Wälder. 

Dem Privateigentum, der Regierung und dem Gesetz ein Ende zu machen würde bedeuten, die Menschen in ein Chaos zu stürzen, das schlimmer wäre als die Kultur. 

«Niemals gelangt man wieder zurück in die Zeiten der Unschuld und Gleichheit, wenn man sich einmal von ihnen entfernt hat.» 

Revolution kann gerechtfertigt sein, denn Gewalt kann gerechterweise stürzen, was Gewalt errichtet und behauptet hat; doch jetzt ist Revolution nicht ratsam. 

Das Beste, was wir tun können, ist, wieder das Evangelium studieren und versuchen, uns von unseren bösen Impulsen zu befreien, indem wir die Ethik des Christentums praktizieren. 

Wir können eine natürliche Sympathie für unsere Mitmenschen zur Grundlage der Moral und der sozialen Ordnung machen. Wir können uns entschließen, ein weniger kompliziertes Leben zu führen, zufrieden mit dem Notwendigsten, den Luxus verachtend, den Wettlauf und das Fieber des «Fortschritts» meidend. Wir können, eine nach der anderen, die Künstlichkeiten, Scheinheiligkeiten und Verderbtheiten der Kultur abwerfen und uns zu Anstand, Natürlichkeit und Ehrlichkeit bekehren. 

Wir können den Lärm und den Aufruhr unserer Städte, ihren Haß, ihre Ausschweifungen und ihre Verbrechen verlassen, um in ländlicher Einfachheit zufrieden in der Erfüllung unserer häuslichen Pflichten zu leben. Wir können den Dünkel und die Sackgassen der Philosophie aufgeben und zurückkehren zu einem religiösen Glauben, der uns im Angesicht des Leidens und des Todes aufrechterhalten wird.

--- 

Will und Ariel Durant: Kulturgeschichte der Menschheit, Band 15, Europa und der Osten im Zeitalter der Aufklärung, Rousseau der Wanderer, S. 44,45, Südwest Verlag München, 1978