Unsere Seele ist ein Vorgarten

Nehmen wir an, unsere Seele ist ein kleiner Vorgarten vor einem kleinen Haus. Ich meine, dort muss das Gras nicht jede Woche mit der Nagelschere geschnitten werden. Es muss nicht jedes modrige Blatt mit Fingerspitzen aufgesammelt werden, als wäre es Giftmüll. Ich meine, der kleine Vorgarten darf wachsen und gedeihen, fast ganz so wie er möchte.

Der Garten wird anfangs auf frischer Erde gesät. Im Laufe der Jahre würde ein Dschungel voller Nischen und Verstecke enstehen. Tiere würden sich ansiedeln. Darunter tausende von Ameisen, die mithelfen, den Stoffkreislauf in Betrieb zu halten. Alle Vögel, Schnecken, Mäuse und Läuse würden Erde bewegen, Pflanzen essen und Samen pflanzen. Ohne planerischen Eingriff würde der kleine Vorgarten ein reiches Biotop werden. Er würde funktionieren, das Leben ihn regeln - ganz einfach und in unvorstellbar komplexen Zusammenhängen.


Wenn unsere Seele ein solcher Garten ist, und das ist er sicherlich, finde ich es schade, dass wir so viel Zeit damit verbringen, ihn zu stutzen, ihn zu säubern und ihn für die Augen der Nachbarn, für den Schein, herzurichten. Dabei wissen wir doch gar nicht, ob die Nachbarn den sauberen Garten wirklich schön finden. Wir meinen es bloß. Vielleicht hat sich irgendwann einmal ein Nachbar über den wilden Garten am unteren Ende der Straße beschwert. Und jetzt halten wir unseren Garten seinetwegen sauber. Aber hat er sich wirklich beschwert, weil ihn der Garten stört? Oder war er in Wirklichkeit neidisch auf die tollen Äpfelbäume, die dort im Frühling viele Bienen und im Herbst Kinder anlocken?

Es könnte ja auch sein, dass dieser Mensch, der sich über die Unordnung in dem wilden Garten beschwert, als Kind gerne mit seinem Bruder durch die Büsche der Siedlung gepirscht war, auf der Suche nach Abenteuern. Die Erinnerung daran ist alt und begraben. Doch die Sehnsucht, die der wilde Garten bei ihm auslöst, lebt weiter. Aber er weiß nicht, woher diese Sehnsucht kommt. Er weiß nur, dass zu seinem Glück irgendetwas fehlt. Und das macht ihn unglücklich, macht ihn mürrisch. Obwohl er sich so viel Mühe gibt, regelmäßig das Gras mäht, jedes kleine Unkraut zwischen den Platten direkt entfernt, sich nicht gehen lässt, immer alles sofort erledigt, einen wichtigen Job hat, ein tolles Auto fährt und saubere, neue Schuhe trägt, stimmt irgendetwas nicht. Was macht er falsch, fragt er sich, und wieso hat dieser faule Hund mit seinem verwilderten Garten immer so ein unverschämtes Lächeln im Gesicht?

Ich kenne die pedantischen Kontrollfreaks, die voller Grießgram und Neid, die mit Falten zwischen den Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln im schicken Anzug durchs Leben kriechen. Und ich kenne andere Menschen mit ausgelatschten Schuhen, ungewaschenen Haaren und gelben Fingern von den vielen Zigaretten, die sie jeden Tag rauchen, obwohl sie wissen, dass es ungesund ist. Es sind Menschen, die in ihren verwilderten Gärten Skulpturen basteln, die nur selten jemand kaufen will, aber es ihnen egal ist, sie weitermachen, weil es sie glücklich macht. Diese Menschen haben erkannt, dass nur der wilde Garten lebendig ist. Sie könnten zwar auch versuchen, ihren kleinen Garten ein Leben lang wie einen Museumspark zu pflegen. Doch sobald sie krank, alt oder tot wären, würde sich die Natur zurückholen, was ihr durch mühevolle Arbeit abgerungen wurde. Und das wissen sie. Also lassen sie es sein und spielen in ihrem Garten.  Sie halten nur die Wege frei, entfernen ab und zu große Äste, damit die Sonne weiterhin auch die Erde erreicht. Und immer wieder laden sie Freunde ein und tanzen und singen gemeinsam. Wie gehst du mit deinem Vorgarten um?