Mehr Freude!

Im deutschsprachigen Raum hat das Spazierengehen eine kulturelle Tiefe, die weit über das körperliche Bewegen hinausgeht. Ich denke dabei eher an eine Haltung, nämlich die Bereitschaft, sich auf den Weg zu machen, sich der Veränderung und dem Aussen anzuvertrauen und darauf zu vertrauen, dass das Leben einen führt. Der «Taugenichts» ist ein romantisch verklärtes Bild für diese Haltung. Die in der deutschen Kultur tief verwurzelte Tradition der Wanderschaft nach der Lehre symbolisiert den Aufbruch in die Welt, über das Bekannte hinaus.

Das Lied «Geh aus, mein Herz, und suche Freud» beschreibt einen ähnlichen Akt: das Heraustreten aus der Enge des Ichs, aus der Geschlossenheit der eigenen Gedankenwelt - hin zur Welt, zur Schöp-fung, zur lebendigen Gegenwart. Es ist ein poetischer Aufruf zur Selbsttranszendenz, getragen von einer geistigen Offenheit für das, was ist.

Freiheit ist hier nicht Abgrenzung, sondern Ent-grenzung. Die Freiheit des Menschen zeigt sich nicht im Rückzug, sondern in der Bereitschaft zur Begegnung. In der Bewegung nach aussen wird das Ich durchlässig und erfährt sich neu - als Teil eines grösseren Ganzen. Und die Methodik dieses Freiheitsansatz ist ganz einfach - Freude.

Das klingt erstmal banal. Vielleicht auch ein bisschen einfach. Und fast ein bisschen unseriös, weil Freude vielleicht dem ernsten Anspruch eines Schulalltags und des Lernens widerspricht. Aber anders als Vergnügen ist Freude kein passives Konsumgut, sondern ein aktives Lebensprinzip - ein Motor menschlicher Selbstverwirklichung (Erich Fromm) und, wie Schiller sagt, ein nährendes Naturprinzip («Ode an die Freude»).

Freude ist eine innere Haltung: die Bereitschaft, sich berühren zu lassen, zu staunen, sich einzulas-sen. Sie ist die Voraussetzung für wirkliches Ler-nen. Wenn ich an meinen Unterricht denke, wird mir klar: Freude ist der Impuls, der Verbindung schafft - zur Klasse, zu einzelnen Schülerinnen und Schülern, zum gemeinsamen Tun. Und sie ist das, was bleibt, wenn etwas gelungen ist.
Die Freude ist Ursprung und Frucht jeder echten Lernbewegung. Sie öffnet uns für das, was uns be-gegnet, und wächst zugleich aus dieser Offenheit heraus.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es mich, wie selten die Schule ein Ort der Freude ist. Ihr Fehlen ist besonders deutlich spürbar im Lehrerzimmer, in Besprechungen, bei Vorbereitungen und in kurzen Gesprächen auf dem Flur. Ich weiss ja nicht, wie es an eurer Schule ist. Aber an meiner Schule ist Freude eher nebensächlich und glänzt zu häufig durch Abwesenheit. Mir scheint, dass es nicht nur bei uns so ist.

Die grosse Anzahl von Ratgebern mit Titeln wie «Die eigene Freude wiederfinden» oder «Wie aus Arbeit Freude wird» lässt mich vermuten, dass fehlende Freude ein weit verbreitetes Phänomen ist. Betrachtet man die Kernbotschaft dieser Rat-geber, stellt man immer wieder fest: «Tu das, was du gerne tust.» Eine einfache Botschaft. Und in ihrem Umkehrschluss weist sie auf das Kernproblem hin. Wir sind überwiegend fremdbestimmt von Dingen, Vorgaben, Ansichten usw.

Die Begegnung mit Edu erinnert mich an etwas, das ich oft vergesse: Wir sind nicht hier, um zu funktionieren, sondern um frei zu sein. Und Freiheit beginnt dort, wo wir dem folgen, was uns wirklich Freude macht. 

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Text: Henrik Löning, in Schulkreis 2025 

Neue Wege in der Selbstverwaltung

Für die Selbstverwaltung wird ebenfalls nach neuen Wegen gesucht. In einer dezentralen Organisationsstruktur werden Aufgaben in Kreise delegiert, die mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind. Neue Entwicklungen sollen nicht durch generelle Mehrheitsentscheidungen verhindert werden können, deshalb wurde das soziokratische Verfahren für Entscheidungsfindungen und Konferenzstrukturen übernommen und weiterentwickelt. Gute Erfahrungen hat das ganze Team damit gemacht, Ziele und Konzepte immer wieder an den realen Gegebenheiten neu auszurichten. In der Wirtschaft spricht man bei diesem Prinzip vom ressourcenorientierten «Effectuation» im Gegensatz zum zielorientierten Management. Der deutsche Begriff ist jedoch aussagekräftiger und lautet: Unternehmenskunst. Das ist auf der Ebene der Organisationsentwicklung das Pendant zu dem, was Steiner «Erziehungskunst» genannt hat. Es ist letztendlich eine Kunst, Konzepte erst aus dem erwachsen zu lassen, was konkret vorhanden ist – nicht, weil es so schön, sondern weil es so schwer ist ...

www.loberthal.de

https://handlungspaedagogik.org

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Schulkreis, Die Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz, Sommer 2025, Lernen in offener Landschaft, Gut Loberthal entwickelt eine Handlungspädagogik für die Grossstadt, Marcus Erb-Szymanski, S.25 

Handlungspädagogischer Studiengang

Zusammen mit den anderen Handlungspädagogischen Schulen «Hofschule Pente» und «Dorfschule Wismarer Land» hat Gut Loberthal einen dualen Ausbildungsgang entwickelt, der es Studierenden ermöglicht, in zwei Jahren eine waldorfpädagogische Ausbildung mit handlungspädagogischem Profil zu absolvieren. Dazu arbeiten die Studierenden für zwei Jahre als Assistenzlehrer an einer der Schulen mit und absolvieren neben einem wöchentlichen Nachmittagsseminar zusätzlich sechs Blockwochen wechselweise an den verschiedenen Schulen. Diese Blockwochen dienen den Schulen darüber hinaus als gemeinsame Weiterentwicklung und Evaluation des handlungspädagogischen Konzepts, das sich je nach Lokalität auf eigene Weise fortentwickelt. Der Ausbildungsgang wird von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und der Software AG Stiftung unterstützt, so dass anfänglich sogar Stipendien für die Studierenden ausgezahlt werden können.

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Schulkreis, Die Zeitschrift der Rudolf Steiner Schulen in der Schweiz, Sommer 2025, Lernen in offener Landschaft, Gut Loberthal entwickelt eine Handlungspädagogik für die Grossstadt, Marcus Erb-Szymanski, S.25 

Vorwärts in die Vergangenheit?

Rousseau gab zu, daß der ideale «Naturzustand ... vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich nie existieren wird» Er stellte diesen Zustand nicht als eine historische Tatsache dar, sondern als einen Vergleichsmaßstab. Das ist es, was er mit dem verblüffenden Vorschlag meinte: 

«Zuerst wollen wir alle Tatsachen ausschalten, denn sie berühren nicht die Frage. Man darf die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingte Überlegungen.»

Wir können uns jedoch eine Vorstellung vom Leben der Menschen vor der Entstehung sozialer Organisationen machen, indem wir den Zustand und das Verhalten neu entstandener Staatskörper beobachten, denn «Staaten von heute verbleiben in einem Naturzustand» - jeder für sich souverän und in Wirklichkeit keine Gesetze kennend als diejenigen der List und der Gewalt; wir können annehmen, daß der präsoziale Mensch in einem ähnlichen Zustand individueller Souveränität, Unsicherheit, des kollektiven Chaos und wechselseitiger Gewalt lebte. 

Rousseaus Ideal war nicht eine solche imaginäre präsoziale Existenz (denn die Gesellschaft ist vielleicht so alt wie der Mensch), sondern ein späteres Stadium der Entwicklung, in dem die Menschen in patriarchalischen Familien und Stammesgruppen lebten und das Privateigentum noch nicht eingeführt hatten. 

«Die älteste und einzig natürliche Form aller Gesellschaften ist die Familie.» Dies war die Zeit höchsten Glückes für die Menschheit; sie hatte Fehler, Schmerzen und Strafen, doch sie hatte keine Gesetze außer der elterlichen Autorität und der Familiendisziplin; 

«Es war der beste Zustand für den Menschen. Er konnte ihn nur infolge irgendeines verhängnisvollen Zustandes verlassen.»

Dieser Zufall war die Einführung des Privateigentums, aus dem die ökonomische, politische und soziale Ungleichheit erwuchs und die meisten der übel des modernen Lebens.

Aus dieser zugelassenen rechtswidrigen Besitzergreifung entstand der vielfältige Fluch der Kultur: Klasseneinteilung, Sklaverei, Leibeigenschaft, Neid, Raub, Krieg, legale Ungerechtigkeit, politische Korruption, kaufmännische Übervorteilung, Erfindungen, Wissenschaft, Literatur, Kunst, «Fortschritt» - mit einem Wort, Entartung.

Um das Privateigentum zu schützen, wurde die Gewalt organisiert und entstand der Staat; um das Regieren zu erleichtern, wurde das Recht entwickelt, um den Schwachen daran zu gewöhnen, sich dem Starken mit einem Minimum an Gewalt und Aufwand zu unterwerfen. 

So kam es, daß «man eine Handvoll Mächtiger und Reicher gerade deshalb auf dem Gipfel der Größe und des Glückes sieht, während die Masse in Dunkelheit und Elend dahinkriecht». 

Zu diesen Grundungleichheiten kommen viele abgeleitete Ungleichheiten: «Schändliche Methoden werden angewandt, um Geburten zu verhindern», Abtreibung, Kindermord, Kastration, Perversionen, «Aussetzung oder Tötung von zahlreichen Kindern, die Opfer der Armut ihrer Eltern werden».

Alle diese Übel wirken demoralisierend, sie sind den Tieren unbekannt, sie machen die «Kultur» zu einem Krebsgeschwür am Körper der Menschheit. Im Vergleich zu dieser vielgestaltigen Korruption und Perversität ist das Leben der Wilden gesund, vernünftig und human.

Sollen wir deshalb zur Barbarei zurückkehren? Müssen die Gesellschaften vollkommen abgeschafft werden? Müssen Mein und Dein abgeschafft werden und müssen wir in die Wälder zurückkehren, um unter den Bären zu leben? Das ist uns nicht mehr möglich; das Gift der Kultur ist in unserem Blut, und wir werden es nicht ausrotten durch die Flucht in die Wälder. 

Dem Privateigentum, der Regierung und dem Gesetz ein Ende zu machen würde bedeuten, die Menschen in ein Chaos zu stürzen, das schlimmer wäre als die Kultur. 

«Niemals gelangt man wieder zurück in die Zeiten der Unschuld und Gleichheit, wenn man sich einmal von ihnen entfernt hat.» 

Revolution kann gerechtfertigt sein, denn Gewalt kann gerechterweise stürzen, was Gewalt errichtet und behauptet hat; doch jetzt ist Revolution nicht ratsam. 

Das Beste, was wir tun können, ist, wieder das Evangelium studieren und versuchen, uns von unseren bösen Impulsen zu befreien, indem wir die Ethik des Christentums praktizieren. 

Wir können eine natürliche Sympathie für unsere Mitmenschen zur Grundlage der Moral und der sozialen Ordnung machen. Wir können uns entschließen, ein weniger kompliziertes Leben zu führen, zufrieden mit dem Notwendigsten, den Luxus verachtend, den Wettlauf und das Fieber des «Fortschritts» meidend. Wir können, eine nach der anderen, die Künstlichkeiten, Scheinheiligkeiten und Verderbtheiten der Kultur abwerfen und uns zu Anstand, Natürlichkeit und Ehrlichkeit bekehren. 

Wir können den Lärm und den Aufruhr unserer Städte, ihren Haß, ihre Ausschweifungen und ihre Verbrechen verlassen, um in ländlicher Einfachheit zufrieden in der Erfüllung unserer häuslichen Pflichten zu leben. Wir können den Dünkel und die Sackgassen der Philosophie aufgeben und zurückkehren zu einem religiösen Glauben, der uns im Angesicht des Leidens und des Todes aufrechterhalten wird.

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Will und Ariel Durant: Kulturgeschichte der Menschheit, Band 15, Europa und der Osten im Zeitalter der Aufklärung, Rousseau der Wanderer, S. 44,45, Südwest Verlag München, 1978

«Du, meines Erdenraumes Geist»

von Marc Desaules
Beim Blick in die Welt erleben wir gegenwärtig, dass an jedem Tag unser Rechtsempfinden neu strapaziert wird. Dinge finden statt, die vorher nie denkbar gewesen wären. Und sie treffen unser Dasein als Menschen und als Menschheit zutiefst. Die über lange Zeit aufgebaute Rechtsordnung zwischen den Menschen, zwischen den Institutionen und zwischen den Ländern - sie trägt nicht mehr.
Was kann in dieser Situation der Einzelne noch tun, um neue Ordnung zu ermöglichen? Zuerst, den Horizont erwei-tern. Denn, so Rudolf Steiner, es sind Wesen im Geistes, im Rechts- und im Wirtschaftsleben wirksam: Im Geistesleben stossen wir auf das Wirkensgebiet der Engel, im Rechtsleben auf das der Erzengel und im Wirtschaftsleben auf dasjenige der Archai. Im Volksseelenzyklus («Die Mission einzelner Volksseelen», GA 121) zeigt er auf, wie diese Wesen uns in allem, was wir im Sozialen tun, begleiten, und legt damit offen, was im Hintergrund der weltpolitischen Ereignisse geschieht, je nach dem freilassend oder bestimmend.
Das ist nicht nur einfach. Denn in jeder menschlichen Gemeinschaft tritt uns nicht nur ein Wesen, sondern gleich deren vier entgegen: der Erzengel, der als Volksgeist unser Zusammensein auf dem Fleck Erde, wo wir leben, begleitet und der sich in der erlebten Zugehörigkeit und in den Regeln, die wir uns gegenseitig zusprechen, zeigt. Er kann als unseres Erdenraumes Geist angesprochen werden. Ihm zur Seite steht, auch als Erzengel, der Sprachgeist, mächtiger als er wirkend, weil er ein zweimal zurückgebliebener Geist ist.
Über dem Volksgeist west der Zeitgeist, ein Arche, der die Qualität einer Epoche trägt - das ist zurzeit die weltweite kosmopolitische Prägung. Ihm zur Seite ist mit dem Denkgeist zu rechnen, auch als Arche, aber auch stärker als der Zeitgeist wirkend, weil einmal zurückgeblieben. Unfrei lassend bestimmt dieser eine Denkweise nach den materialistischen Gegebenheiten und nach allerlei Gruppenmustern, wie die Nationalismen, und wirkt dezidiert gegen den Zeitgeist.
So ist der geistige Hintergrund unser menschliches Beisammensein gebildet. Nun gilt es, die Wirkungen zu durch-schauen. Schon bei der Unterscheidung zwischen Sprach-und Volksgeist beginnt das Problem, weil diese in ständiger Konkurrenz sind. Beide sind Erzengel, aber wie erkennen wir den Volksgeist? Anders als die Menschen unserer Nachbarlander haben wir Schweizer in dieser Hinsicht einen Vorteil. Als Romand vermag ich zu unterscheiden, was mich mit Frankreich durch die Sprache, aber auch deutlich, was mich mit der Schweiz verbindet - nicht einfach, wenn Land und Sprache übereinstimmen. Ähnlich und gleichermassen wichtig ist es, zu erkennen, was dem Zeitgeist und was dem Denkgeist entspricht, was zur Qualität unserer Zeit gehört, Menschen fördernd, und was dagegen sich ausbreitet, Menschen bedrängend.
Wenn uns nun beim Blick in die heutige Welt die Orientierung zu verlassen droht, so sollten wir den eigenen Horizont so erweitern, dass wir unseren Volkgeist - dies in allen Ländern der Welt - in die Gleichung einbeziehen. Denn aden Friedenssphären seines Wirkens vermag er neue Wege zu schaffen, wo wir die Orientierung verlieren. Damit er dies tun kann, braucht er jedoch unsere Hilfe, die Hilfe eines jeden einzelnen Menschen!
Das können wir aus dem Spruch, den Rudolf Steiner in den ersten Tagen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, am 16. August 1914, gegeben hat: Du, meines Erdenraumes Geist - so wird unser Erzengel, unser Volksgeist angesprochen.
Enthülle deines Alters Licht - anders gesagt, zeige mir dein wahres Wesen, damit ich dich nicht mit einem anderen Geist, der in der Gemeinschaft wirkt, verwechsle.
Der Christ-begabten Seele. - Christ-begabt? Was ist gemeint?
Sicher nichts, was mit der Religion zu tun hat. Es geht um eine Haltung, die in jedem Menschen heute wachsen kann: bereit sein zu verantworten, also die vollen Konsequenzen des eigenen Tuns tragen zu wollen. Es bedeutet, eine Beziehung zu schaffen mit dem Auferstehungsleib.
Der Spruch erscheint also vorerst als eine Bitte, an die geistige Welt gerichtet, eine Bitte, die sich an den Geist wendet, der auf Erden mein Zusammenleben mit den anderen Menschenseelen begleitet. Durch diese Bitte wird aber die Seele aufgefordert, die Geister, von denen sie in Gemeinschaften auf Erden begleitet wird, aufzusuchen und zu unterscheiden.
Eine schwierige Aufgabe, die sich aber wirklich lohnt, weil:
Dass strebend sie finden kann - die Christ-begabte Seele ist, im Verantwortenwollen der Konsequenzen ihres Wirkens, auch eine strebende.
Im Chor der Friedenssphären - wo befindet sich der Volks-geist? Der Volksgeist ist in den Friedens-sphären mit all den anderen Volksgeistern zu finden. Kriege entstehen nicht aus der Wirkung der Volksgeister, sondern immer ausserhalb.
Dich tönend von Lob und Macht - indem die Seele ernsthaft strebt, so findet sie auch ihr Volksgeist. Er ist da und tönt. Woher?
Des Christ-ergebenen Menschensinns.-Aus Lob und Macht, die aus dem erwachten Menschensinn strahlen. Denn seit dem Mysterium von Golgatha, ist Christus nicht mehr in den Himmel, sondern auf der Erde mit den Men-schen. Dadurch sind die Geister von uns Menschen abhängig geworden, um Christus zu erleben. Wird dieser Vorgang, der bei uns beginnt, möglich, so können Wunder passieren! Wir können unseren Volksgeist befähigen! Und befähigt, wird er auch den Weg im Chor der Friedensphären finden - und wir die Orientierung, als Echo aus der anderen Seite der Schwelle.
Wer sonst, wenn nicht wir, können hier in der heutigen Zeit tätig werden!

Geist-Verstehen und Schicksals-Erleben

Das Verständnis des anthroposophischen Erkennens kann gefördert werden, wenn die menschliche Seele immer wieder auf das Verhältnis von Mensch und Welt hingelenkt wird.
Richtet der Mensch die Aufmerksamkeit auf die Welt, in die er hineingeboren wird und aus der er herausstirbt, so hat er zunächst die Fülle seiner Sinneseindrücke um sich. Er macht sich Gedanken über diese Sinnes-Eindrücke.
Indem er dieses sich zum Bewußtsein bringt: «Ich mache mir Gedanken über das, was mir meine Sinne als Welt offen-baren», kann er schon mit der Selbstbetrachtung einsetzen. Er kann sich sagen: in meinen Gedanken lebe «Ich». Die Welt gibt mir Veranlassung, in Gedanken mich zu erleben. Ich finde mich in meinen Gedanken, indem ich die Welt betrachte.
So fortfahrend im Nachsinnen verliert der Mensch die Welt aus dem Bewußtsein; und das Ich tritt in dieses ein. Er hört auf, die Welt vorzustellen; er fängt an, das Selbst zu erleben.
Wird umgekehrt die Aufmerksamkeit auf das Innere ge-richtet, in dem die Welt sich spiegelt, so tauchen im Bewußtsein die Lebensschicksalsereignisse auf, in denen das menschliche Selbst von dem Zeitpunkte an, bis zu dem man sich zurück-erinnert, dahingeflossen ist. Man erlebt das eigene Dasein in der Folge dieser Schicksals-Erlebnisse.
Indem man sich dieses zum Bewußtsein bringt: «Ich habe mit meinem Selbst ein Schicksal erlebt», kann man mit der Weltbetrachtung einsetzen. Man kann sich sagen: In meinem Schicksal war ich nicht allein; da hat die Welt in mein Erleben eingegriffen. Ich habe dieses oder jenes gewollt; in mein Wollen ist die Welt hereingeflutet. Ich finde die Welt in meinem Wollen, indem ich dieses Wollen selbstbetrachtend erlebe.
So fortfahrend, sich in das eigene Selbst einlebend, verliert der Mensch das Selbst aus dem Bewußtsein; die Welt tritt in dieses ein. Er hört auf, das Selbst zu erleben; er fängt an, die Welt im Erfühlen gewahr zu werden.
Ich denke hinaus in die Welt; da finde ich mich; ich versenke mich in mich selbst, da finde ich die Welt. Wenn der Mensch dieses stark genug empfindet, steht er in den Welt- und Men-schenrätseln drinnen.
Denn fühlen: man müht sich im Denken ab, um die Welt zu ergreifen, und man steckt in diesem Denken doch nur selbst darinnen, das gibt das erste Welträtsel auf.
Vom Schicksal in seinem Selbst sich geformt fühlen und in diesem Formen das Fluten des Weltgeschehens empfinden; das drängt zum zweiten Welträtsel hin.
In dem Erleben dieses Welt- und Menschenrätsels erkeimt die Seelenverfassung, in der der Mensch der Anthroposophie so begegnen kann, daß er in seinem Innern von ihr einen Eindruck erhält, der seine Aufmerksamkeit erregt.
Denn Anthroposophie macht nun dieses geltend: Es gibt ein geistiges Erleben, das nicht im Denken die Welt verliert.
Man kann auch im Denken noch leben. Sie gibt im Meditieren ein inneres Erleben an, in dem man nicht denkend die Sinnes-welt verliert, sondern die Geistwelt gewinnt. Statt in das Ich einzudringen, in dem man die Sinnen-Welt versinken fühlt, dringt man in die Geist-Welt ein, in der man das Ich erfestigt fühlt.
Anthroposophie zeigt im weiteren: Es gibt ein Erleben des Schicksals, in dem man nicht das Selbst verliert. Man kann auch im Schicksal noch sich selbst als wirksam erleben. Sie gibt in dem unegoistischen Betrachten des Menschenschicksals ein Erleben an, in dem man nicht nur das eigene Dasein, sondern die Welt lieben lernt. Statt in die Welt hineinzustarren, die in Glück und Unglück das Ich auf ihren Wellen trägt, findet man das Ich, das wollend das eigene Schicksal gestaltet. Statt an die Welt zu stoßen, an der das Ich zerschellt, dringt man in das Selbst ein, das sich mit dem Weltgeschehen verbunden fühlt.
Das Schicksal des Menschen wird ihm von der Welt bereitet, die ihm seine Sinne offenbaren. Findet er die eigene Wirksamkeit in dem Schicksalswalten, so steigt ihm sein Selbst wesenhaft nicht nur aus dem eigenen Innern, sondern es steigt ihm aus der Sinneswelt auf.
Kann man auch nur leise empfinden, wie im Selbst die Welt als Geistiges erscheint und wie in der Sinneswelt das Selbst sich als wirksam erweist, so ist man schon im sicheren Verstehen der Anthroposophie darinnen.
Denn man wird dann einen Sinn dafür entwickeln, daß in der Anthroposophie die Geist-Welt beschrieben werden darf, die vom Selbst erfaßt wird. Und dieser Sinn wird auch Verständnis dafür entwickeln, daß in der Sinneswelt das Selbst auch noch anders als durch Versenken in das Innere gefunden werden kann. Anthroposophie findet das Selbst, indem sie zeigt, wie aus der Sinneswelt für den Menschen nicht nur sinnliche Wahrnehmungen sich offenbaren, sondern auch die Nachwirkungen aus seinem vorirdischen Dasein und aus den vorigen Erdenleben.
Der Mensch kann nun in die Welt der Sinne hinausblicken und sagen: da ist ja nicht nur Farbe, Ton, Wärme; da wirken auch die Erlebnisse der Seelen, die diese Seelen vor ihrem gegenwärtigen Erdendasein durchgemacht haben. Und er kann in sich hineinblicken und sagen: da ist nicht nur mein Ich, da offenbart sich eine geistige Welt.
In einem solchen Verständnisse kann der von den Welt- und Menschenrätseln berührte Mensch sich mit dem Eingeweihten zusammenfinden, der, nach seinen Einsichten, von der äußeren Sinneswelt so reden muß, als ob aus derselben nicht nur sinnliche Wahrnehmungen sich kundgäben, sondern die Eindrücke von dem, was Menschenseelen im vorirdischen Dasein und in verflossenen Erdenleben gewirkt haben; und der von der inneren Selbst-Welt aussagen muß, daß sie Geistzusammenhängeoffenbart, so eindrucks- und wirkungsvoll, wie die Wahrnehmungen der Sinneswelt sind.
Bewußt sollten sich die tätig sein wollenden Mitglieder zu Vermittlern dessen machen, was die fragende Menschenseele als Welt- und Menschenrätsel fühlt, mit dem, was die Ein-geweihten-Erkenntnis zu sagen hat, wenn sie aus Menschen-Schicksalen eine vergangene Welt heraufholt, und wenn sie aus seelischer Erkraftung die Wahrnehmung einer Geist-Welt erschließt.
So kann im Arbeiten der tätig sein wollenden Mitglieder die Anthroposophische Gesellschaft zu einer echten Vorschule der Eingeweihten-Schule werden. Auf dieses wollte die Weih-nachtstagung kräftig hinweisen; und wer diese Tagung richtig versteht, wird mit diesem Hinweisen fortfahren, bis ein genügendes Verständnis dafür der Gesellschaft wieder neue Aufgaben bringen kann.