Selbstbestimmungsrecht der Völker - eine schöne Illusion

1918, das Ende des Ersten Weltkrieges. Die Staaten hatten ihre Soldaten in sinnlose Schlachten geschickt. Am Ende gab es nur Verlierer. Nicht nur Europa lag in Trümmern, es gab Millionen von Toten. Es stellte sich neben der Frage des „Warum“ auch die Frage nach dem „Wie weiter?“ – Wie sind derartige Kriege zukünftig zu vermeiden? Man sprach von der „sozialen Frage“, der Frage nach der Neueinrichtung der Welt.

Der amerikanische Präsident Wilson brachte das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ins Spiel. Ob er es so gemeint hat, sei dahingestellt; verstanden wurde es als die Aufforderung, neue Nationalstaaten zu bilden, die sich gegenseitig in Ruhe zu lassen hätten. Sie sollten im Völkerbund organisiert sein und den Frieden garantieren: eine schöne Illusion!

Denn wer genauer hinguckt, kann unschwer feststellen, dass nicht die Völker in den Krieg gezogen waren, sondern die Staaten, die sich von ihren Machtinteressen leiten ließen und dafür ihre Völker opferten. Anstelle der bisherigen Groß- und Vielvölkerstaaten Nationalstaaten zu etablieren, erscheint hier als eher realitätsferne Alternative: Der neue Nationalstaat als Mittel gegen alte nationale Staatsinteressen!

Das Modell Wilson musste noch aus einem weiteren Grund Illusion bleiben: In weiten Teilen Europas lebten oft seit Jahrhunderte mehrere Völker gemischt mit- und nebeneinander: Polen und Deutsche in Oberschlesien; Litauer, Polen, Russen, Weißrussen, Juden in Litauen; Rumänen, Magyaren, Deutsche, Juden, Roma und Sinti in Siebenbürgen; Italiener und Österreicher in Südtirol; ein buntes Gemisch von Völkern in dem späteren Jugoslawien etc. Navid Kermani nennt als bestes Beispiel den „Kaukasus mit seinen vielen Kriegen zwischen den Völkern, von denen wir bestenfalls die Namen kennen: die Osseten, die Abchasen, die Dagestaner, Tschetschenen, und wie sie alle heißen.

Über 50 Völker mit je eigener Sprache, Kultur, Religion, Sitten und Gebräuche leben auf einem Gebiet das geschätzt kleiner ist als Deutschland. Und sie leben nicht etwa getrennt voneinander, die einen in einem Tal, die anderen im nächsten, sondern direkt neben- und miteinander“ (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 20. Februar 2018). Das gewachsene Nebeneinander ist die Regel, eine kulturell homogene Bevölkerungsstruktur in großen Teilen Europas die eher seltene Ausnahme.

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Das Konstrukt des Nationalstaates hat sich dermaßen in unserer Vorstellungswelt verankert, dass wir, auch heute noch, kaum mehr anders denken können als: Deutschland den Deutschen, Spanien den Spaniern, Katalonien den… – pardon! Zum nächsten Schritt ist es nicht mehr weit: Wo Magyaren leben, ist Ungarn, wo Russisch gesprochen wird, ist Russland, wo Deutsch gesprochen, Deutschland

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