Mein Dom

Nur wenige Meter fehlen und ich könnte meine Hand an seine alte, raue Haut legen. Um seine Spitzen zu sehen, muss ich den Kopf in den Nacken legen und die Augen zusammenkneifen. Seine Türme scheinen zu schwanken, dabei ziehen nur die Wolken darüber hinweg. Er macht mich jung und klein – der Kölner Dom.

Das riesige Bauwerk steht mitten in der Stadt neben dem Bahnhof. Neben der pulsierenden Station ist er ein Relikt der Ruhe mit einer langen Geschichte, mit der Gelassenheit eines Greises. Im Vergleich zu modernen Glasbauten und Stahlkonstruktionen wirkt das rohe Gemäuer der Kirche alt und fremd wie das Werk einer fremden Welt. Doch nicht der ganze Dom ist so alt, wie man es sich vorstellt:

Im Jahre 1248 waren die Reliquien der Heiligen Drei Könige schon einige Jahre in Köln und die kleine Kirche am Platz des heutigen Doms nicht mehr nur Amtskirche des Kölner Erzbischofs, sondern schon eine der bedeutendsten Wallfahrtskirchen Europas. Also beschloss man, die den Orte würdigende architektonische Form zu finden: Ein gotischer Dom sollte entstehen. Dem Konzept gotischer Sakralarchitektur gemäß sollten die Menschen beim Anblick des Domes die Größe Gottes und die Macht der Kirche spüren. Die Vertikalen des hohen Skeletbaus weisen Richtung Himmel, wirken elegant und erhaben. So, wie sich die Kirche selbst sah.

Die erste Bauphase dauerte 282 Jahre, bis zum Jahre 1530. Dann verlor sich das Interesse an der ewigen Baustelle. Es dauerte einfach zu lange, und das Ende war noch nicht in Sicht. Zudem erschwerte akuter Geldmangel in Staat und Kirche den Weiterbau. Der Dom wurde zu einem untragbaren Klotz. So ließ man den halbfertigen Dom nackt und ohne Türme stehen. Ungefähr zehn Generationen Kölner Bürger erlebten die Baustelle, ohne dass sich dort etwas veränderte. Bis ins 19. Jahrhundert hinein, fast 400 Jahre lang, bestimmte der unvollendete Bau die Rheinansicht Kölns.

Für die Geschichte des Domes bedeutend veröffentlichte im Jahre 1772 Goethe das Essay Von deutscher Baukunst. Darin beschrieb er die Gotik als Symbol für einen vermeintlich ursprünglich deutschen Baustil und erklärte sie als bauliches Sinnbild des christlichen Glaubens. Darauf berief sich auch der preußischen König Friedrich Wilhelm IV. mitten in der Epoche der Romantik. Zu dieser Zeit wurden die Stile des Mittelalters wiederentdeckt und zum zweiten Mal wurde die Gotik zum Vorbild für den Sakralbau, diesmal Neogotik genannt.

Doch der Dom erlebte zuerst den Tiefpunkt seiner Bedeutung. 1794 eroberten Napoleon und seine französischen Revolutionstruppen Köln als wichtige Stadt am Rhein. Erzbischof und Domkapitel mussten fliehen, und der Dom wurde entweiht. Ein Bauwerk, an dem unzählige Menschen mitgewirkt hatten, das über das Lebenswerk vieler Generationen hinausging, wurde zu einem profanen Ort für Kisten und Säcke voller Waren des Alltags. Sieben Jahre lang diente das ehrwürdige Gebäude als Lagerraum. Die Kölner waren beleidigt. Erst im Jahre 1801 wurde der Dom erneut zum Gotteshaus geweiht. Doch der Schock saß tief.

Nur langsam erholte sich die sonst frohe Natur der Kölner von dieser Demütigung. Die Liebe zu ihrem besonderen Bauwerk wuchs erneut. Gleichzeitig kam es zu einer fabelhaften Entdeckung: Mitten in der Begeisterung für das Mittelalter fand ein Historiker die noch erhaltenen originalen Baupläne des Doms. Die Freude war groß, das Interesse geweckt und genügend Geld vorhanden: Etwa die Hälfte des Geldes kam aus der preußischen Staatskasse, die andere Hälfte brachte der Zentral-Dombau-Verein auf. Viele Kölner Bürger engagierten sich und gaben Geld. 1842 begann die letzte, intensive Bautätigkeit. Die Architekten und Maurer folgten den Formen der historischen Pläne und bedienten sich modernster Bautechnik. Die stabilen Eisenkonstruktionen im Inneren der Türme entstanden zu dieser Zeit.

Im Jahre 1880 war es schließlich so weit: 638 Jahre nach dem ersten Spatenstich war der Dom vollendet. Von nun an war er das höchste Gebäude der Welt. Köln hatte ein neues Wahrzeichen und das junge Deutsche Reich ein neues Symbol. Die staatliche Propaganda sah im Dom die Stärke und die Kraft der Nation und das weithin sichtbare Bauwerk repräsentierte deutsches Nationalbewusstsein.

Sechzig Jahre später lag ein Reich in Trümmern und die Stadt zu Füßen des steinernen Riesen in Schutt und Asche. Fotoaufnahmen aus dieser Zeit zeigen die brutale Zerstörung aus der nur die Türme ragen - als Mahnmal der Geschichte über den Scherben des Größenwahns. Groß und erhaben stand er im Rauch der tausend Feuer, schwarz und schweigend.

Heute steht er im Zentrum einer blühenden Stadt. Um ihn herum verkaufen Händler Weihnachtsschmuck, tanzen Schauspieler, wenn man ihnen einen Münze zuwirft und grölen Betrunkene vorallem am Wochenende. Für Besucher der Stadt ist er ein touristisches Objekt, ein seltsames Stück Stein ohne Bezug zum Leben in der nächsten Straße, wo man den Konsum feiert.

Die Menschen, die stehen bleiben, sich für die Seele der Steine interessieren, sehen die Arbeit und die Geschichte, die aus ihnen spricht. Sie sehen auch die Wunden der Fliegerbomben, die ihn vor mehr als sechzig Jahren trafen. Und auch die Wunden der Umweltverschmutzung werden immer tiefer. Ständig muss an ihm gebaut werden, muss verbessert und restauriert werden, um ihn zu erhalten und bestehen zu lassen - den beeindruckenden Kölner Dom. Die Baustelle geht weiter. Wir müssen ihn pflegen wie einen alten Herrn. Doch um so älter er wird, desto fremder wird er uns. Ich verstehe gut, was der Bettler vor dem Eingangsportal meint, wenn er sagt: „Haben sie ein bisschen Geld? Ich brauche Sprit für mich und meine Rakete.“

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