GOETHE IN UNSERER ZEIT
Rudolf Steiners Goetheanismus
als Forschungsmethode
Herausgegeben von der Naturwissenschaftlichen Sektion
am Goetheanum
Dornach
durch
Dr. Guenther Wachsmuth
1949
HYBERNIA-VERLAG DORNACH - BASEL
Vorwort des Herausgebers
In einer Studie über den «Einfluß des Ursprungs wissenschaftlicher Entdeckungen» sagt Goethe: «Was würden wir von dem Architekten sagen, der durch eine Seitentüre in einen Palast gekommen wäre und nun, bei Beschreibung und Darstellung eines solchen Gebäudes, alles auf diese erste untergeordnete Seite beziehen wollte? und doch geschieht dies in den Wissenschaften jeden Tag.»
Goethe erwartete vom forschenden Menschen, daß er die zufällige Seitenpforte, durch die er den Palast des Weltalls betreten hat, nicht zum Hauptportal mache, sondern erst das Ganze betrachte, ehe er in die Beschreibung des Einzelnen geht. Auch wer in diesem Sinne als Architekt, als werdender Baumeister im Reich der Erkenntnis, das Werk Goethes betrachtet, das diesen Palast des Weltalls widerspiegelt, muß Jahrzehnte wandern, um die Ganzheit zu schauen.
Goethe fordert aber vom Menschen nicht nur das Bewundern, Darstellen, Beschreiben, sondern daß der Architekt selbst neue Bauten errichte, die des erlebten Urbildes würdig sind, die das Begonnene weiterführen, Metamorphosen des Keimes, der im Erlebnis solchen Werkes in die Seele gepflanzt wurde. Rudolf Steiner, der zu neuen Erkenntnissen führte, die dem Zeitgeist unserer Epoche gerecht werden, war ein solcher Baumeister. Und er rief Schüler auf, an dem goetheanistischen Werk mitzubauen, aus dem Erlebnis des Ganzen Gewölbe und Säulen, Türen und Fenster, Stufen und Räume individuell zu gestalten, im Geiste des Bauplanes schöpferisch tätig zu sein.
Goethe sagt im Vorwort seiner morphologischen Studien: «Wie wenige fühlen sich von dem begeistert, was eigentlich nur dem Geiste erscheint!» Goethes Geistgestalt lebt heute nicht nur in seinem Werk, das ein Jubeljahr feiern kann, sondern in Menschen, die von seiner ewigen Entelechie begeistert in die Zukunft schreiten und immer neue Schönheiten im Palast des Weltalls entdecken. Jede solche Entdeckung führt im Sinne Goethes zur Erkenntnis, daß Weltall und Erde Lebewesen sind, daß jeder fruchtbare menschliche Gedanke ein Geisteskeim ist, der durch viele Metamorphosen wächst, sich entfaltet, neue Schöpfungen aus sich gebiert. Daß das 20. Jahrhundert nicht nur auf Goethe zurückblicken kann, sondern mit ihm in die Zukunft schreitet, daß uns der Goetheanismus und das Werk Rudolf Steiners die Möglichkeit geben, die Welt täglich neu sehen zu lernen und in die Planung des Ganzen einzudringen, dafür sei 200 Jahre nach Goethes Geburt Zeugnis abgelegt, indem der Versuch gewagt wird, nach seiner Forschungsmethode einige der unerschöpflichen Aspekte darzustellen, die sich dem Wandernden im Palast der Schöpfung auftun.
Goethes Werk ist Werden und Zukunft. Im folgenden stehen neben Grundskizzen der Architektonik des Ganzen auch Erlebnisberichte der Wandernden. Bei der Fülle der Beiträge, die heute schon möglich wären, mußte eine Auswahl getroffen werden, die durch die räumliche Begrenzung eines solchen Jahrbuches gegeben ist. Für die Mithilfe bei den Vorarbeiten bin ich Herrn Dr. Hermann Poppelbaum, Herrn Joachim Schultz und Herrn E. Estermann dankbar. Den Autoren danke ich im Namen des Goetheanums für ihre Mitarbeit. Weitere Publikationen sind auch für die folgenden Jahre vorgesehen.
Möge der im Geiste ewig lebende Goethe die forschende Menschheit durch die kommenden Jahrhunderte begleiten.
Für die Naturwissenschaftliche Sektion am Goetheanum:
Dr. Guenther Wachsmuth